Nachrichten aus dem Meer

Fabio Genovesi erzählt in seinem Roman „Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden“ eine figurenreiche und irrwitzige Geschichte an der toskanischen Küste

Von Laura HombergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Homberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein zusammengewürfelter Haufen eigenartiger und komischer Figuren begibt sich auf einen Roadtrip, nachdem die dreizehnjährige Protagonistin glaubt, über das Meer Zeichen von ihrem toten Bruder zu erhalten. Das verspricht in wenigen Worten Fabio Genovesis zweites Buch „Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden“, mit dem er 2015 für den renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega nominiert war. Der versprochene Roadtrip macht zwar nur einen Teil der Handlung aus – dafür präsentiert Genovesi neben einer außergewöhnlichen Erzählweise ein Arsenal an skurrilen und irrwitzigen Persönlichkeiten. 

Zunächst einmal wird der Roman von drei unterschiedlichen Erzählerfiguren erzählt. Zum einen ist das das dreizehnjährige, naive und fast blinde Albino-Mädchen Luna, das bis vor kurzem noch an den Weihnachtsmann geglaubt hat; dann ihre chaotische Mutter Serena, der die Selbstverwirklichung ihrer Kinder wichtiger ist, als dass sie zur Schule gehen, und schließlich der fast vierzigjährige Aushilfslehrer Sandro, der noch zu Hause wohnt und perspektivlos in den Tag hineinlebt. Als Nebenfiguren reihen sich zudem noch Lunas bester Freund Zot – ein Waisenkind aus Tschernobyl, das sich verhält und spricht wie ein alter Mann – , Zots an Verfolgungswahn leidender „Pflegeopa“ Ferro und Sandros nichtsnutzige Freunde Rambo und Marino in das skurrile Panoptikum ein. 

Scharnierpunkt der unterschiedlichen Erzählstränge ist Lunas großer Bruder, Serenas Sohn und Sandros Schüler Luca. Sein Leben – und Sterben – verbindet die so unterschiedlichen Erzählerfiguren und ist somit ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der Handlung, die in drei große Abschnitte gegliedert ist: die Zeit vor und nach Lucas Tod, den Roadtrip und schließlich das Weiterleben der Figuren nach dem Verlust. 

Während der erste Teil in einer Reihe von kurzen Kapiteln das alltägliche Leben der drei Erzähler schildert, aber auch immer wieder Lucas große Bedeutung in deren Leben hervorhebt, wird im zweiten Teil auf die verschiedenen Arten der Trauer von Luna, Serena und Sandro infolge von Lucas Tod durch einen Surfunfall in Frankreich eingegangen. Genovesi ermöglicht mit Leichtigkeit das Eintauchen in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren, indem er bei jedem Perspektivwechsel die Erzählweise verändert. Die Passagen von Luna werden aus der ersten Person erzählt, Serenas dagegen wie in einem Selbstgespräch aus der zweiten Person und Sandros distanzierter aus der dritten Person. 

Dass Genovesi mehr mit seinen Figuren als mit der Handlung selbst beschäftigt ist, wird schnell deutlich; besonders gegen Ende des zweiten Teils fällt auf, dass die Haupthandlung immer mehr in den Hintergrund rückt. Dies geschieht vor allem deshalb, weil zu jeder Figur, der die Protagonisten auch nur flüchtig begegnen, eine detailreiche Lebensgeschichte erzählt wird. Im dritten Teil stößt zudem noch Sandros bester Freund Rambo als Erzähler mit einer eigenen, ziemlich unabhängigen Nebenhandlung hinzu, und der Leser sucht auch hier, wie so häufig im Buch, nach Verknüpfungen, wo es zum Teil keine gibt. So wird der Roadtrip – der voller Witz und Skurrilität ist – durch besagte Nebenhandlung und einige unglaubwürdige Figurenhandlungen überschattet. 

Im späteren Verlauf der Geschichte, besonders gegen Ende, beginnt die Handlung allmählich abzubauen, und die Geschehnisse und Verhaltensweisen der Figuren scheinen immer irrealer und abwegiger zu werden. Diese fortschreitende Zerfaserung der Plausibilität vermag Genovesi jedoch mittels mikroskopisch genauer Schilderung der Lebenswirklichkeit seiner Figuren auszugleichen. So beschreibt er detailliert das Leben in einem toskanischen Städtchen an der Küste des ligurischen Meeres inmitten der gegenwärtigen Finanzkrise. Arbeitslosigkeit, leerstehende Geschäfte, junge Menschen, die die Stadt verlassen, verwahrloste Monumente, ein verschmutztes Meer und reiche Russen, die Einheimischen ihre Häuser abkaufen und stattdessen riesige Villen bauen – alles aktuelle Themen und Problematiken, die von Genovesis Figuren wahrgenommen werden. 

Der Roman lebt somit weniger von der Handlung, als vielmehr von den Figuren und Genovesis besonderer Erzählweise. Er besticht vor allem durch die präzisen und liebevollen Beschreibungen der Umgebungen und Zustände, durch die eigensinnigen Charaktere und all die skurrilen und irrwitzigen kleinen Geschichten, die er erzählt. Trotz seiner Schwächen bezüglich der Handlung liefert der Roman mit seiner besonderen Art, sich mit Verlust und Trauer auseinanderzusetzen und mit seiner außergewöhnlichen Figurenzeichnung viele Gründe, ihm eine Chance zu geben.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Fabio Genovesi: Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Mirjam Bitter.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
572 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458176718

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