Mit Dante hinein ins Ungeheuerliche
Etwas zu umständlich erzählt Sibylle Lewitscharoff von einer akademischen Himmelfahrt
Von David Wachter
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein neues Pfingstwunder brach über uns herein.“ So beschreibt der alternde Professor Gottlieb Elsheimer, was ihm und seinen Kollegen bei einer Tagung über die „Divina Commedia“ widerfahren sein muss. Der fiktive Doyen der Dante-Forschung erlebte als Zeuge, wie ein Symposium von Romanisten, allesamt Verehrer des italienischen Poeten, in einem ekstatischen Tumult auseinanderging. Über Tage hinweg hat man Dantes Parcours durch Hölle und Fegefeuer Canto für Canto goutiert. Man hat erhebenden Vorträgen gelauscht, geistreich über einen kleinen Hund gescherzt und abends gediegen gespeist. Doch als an Pfingsten 2013 in Rom die Glocken läuten, hält die Philologengemeinde nichts mehr. Adrette Damen und eloquente Herren tanzen auf den Tischen; sie kichern und singen, stammeln Halb- und Unverständliches in zahllosen Sprachen und fliegen jauchzend gen Himmel. Von dieser Entrückung bleibt nur der einsame Ich-Erzähler in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman „Das Pfingstwunder“ ausgenommen. „Jetzt ist alles anders“ – die Zäsur des Ereignisses treibt den Mann um. Fortan gerät seine aufgeräumte Existenz aus den Fugen. Der behäbige Bildungsbürger fragt sich, warum er allein nicht der göttlichen Gnade teilhaftig geworden ist. Oder hat er sich alles nur eingebildet, ist er gar ein „Schizo“ geworden? Religiös unmusikalisch wie er ist, kann sich der 62-jährige Schwabe das „Vorkommnis“ nicht rational erklären, lehnt aber auch das „Blähwort“ Wunder ab, weil er emphatische Bekenntnisse nicht leiden kann. So gerät seine Selbstbefragung und mit ihr die Erzählung in Gang.
Unablässig kreist der Monolog des Ich-Erzählers um das ihn verstörende Ereignis, vor allem aber um sich selbst. Was er zu fassen versucht, entgleitet ihm. Doch das stört den beredten Professor mit Hang zur Weitschweifigkeit kaum – schließlich gibt es ihm die Gelegenheit, sich zu Dante im Allgemeinen sowie zu Gott und der Welt im Besonderen zu äußern. Auf diese Weise kommt in Lewitscharoffs Essay-Roman einiges Diskursive mit ordentlichem Gewicht zusammen. Der gelehrte Elsheimer führt in Gedankenwelt und poetische Gestalt der literarischen Kosmologie aus dem späten Mittelalter ein: Er gibt einen Überblick über die Handlung der „Divina commedia“, erläutert Interpretationsfragen, stellt theologische Bezüge von Dantes Epos zu Thomas von Aquins scholastischer Systematik her und spannt mit Bemerkungen zu Hans Urs von Balthasars theologischer Ästhetik den Bogen bis ins 20. Jahrhundert. Ausgiebig referiert und bewertet er (reale) Übersetzungen von Rudolf Borchardt, Stefan George oder Hermann Gmelin, während er dem Leser die skurrilen Eigenheiten seiner (fiktiven) Vortragenden vor Augen führt oder an die eigene Kindheit in Stuttgart-Sillenbuch erinnert (die mit der eigentlichen Handlung kaum etwas zu tun hat).
Bei diesem mäandernden Parcours schwankt der Protagonist und mit ihm die Erzählung zwischen zwei Polen. Einerseits versucht er, den Einbruch des Numinosen literarisch darzustellen und in deren Horizont das eigene Akademikerleben infrage zu stellen. Andererseits zieht er sich immer wieder in die selbstzufriedene Distanz des geschwätzigen Professors zurück, der altherrenhaft die Vorträge des „jungen Gemüses“ kommentiert, gönnerhaft die italienische Sprachkompetenz seiner Kollegen lobt, sich als Connaisseur bei primi piatti im authentischen Rom-Lokal gefällt und generell über alles und jeden Bescheid weiß.
Vielleicht führt gerade diese Spannung dazu, dass man „Das Pfingstwunder“ mit Lust und Leid zugleich liest. Stark ist der Roman dort, wo er das Provokations- und Irritationspotenzial des Numinosen literarisch austestet. Wenn es bei Lewitscharoff so etwas wie eine Ästhetik des Wunders gibt, dann besteht diese in einem beständigen Changieren zwischen Emphase und Ironie, zwischen religiösem Ernst und parodistischer Überzeichnung des „Stimmengeschnatters“ und „Dantegetümmels“. Jener penetranten Selbstgefälligkeit des Bildungsbürgers, der stolz sein Commedia-Wissen zu Gehör bringt, steht mitunter die religiöse Intensität entgegen, mit welcher der Ergriffene die pfingstliche Zäsur erlebt und in Worte zu fassen versucht. An den interessanteren Stellen wird das Numinose emphatisch beschworen und zugleich einer theologischen Deutung im Sinne konfessioneller Lehren entzogen. Der ‚Heilige Geist‘ des ‚Pfingstwunders‘ bleibt mit Absicht unbestimmt, weil die Autorin eigentlich keine Glaubenswahrheiten vermitteln, sondern den imaginären Einbruch einer unbestimmten Transzendenz gestalten, also gleichsam eine zeitgenössische Ästhetik des Wunderbaren entwickeln möchte. An wortgewaltigen Beschreibungen wie der folgenden scheint die sprachliche Virtuosität auf, über die Lewitscharoff zweifellos verfügt:
eine bestürzende Nacht, in der die Stimmgabel Gottes in winzigen Bruchstücken in unsere Kehlen praktiziert wurde, in der ein glückseliges Gelalle anhob, glückselige Wörterstürze sich in Kaskaden ergossen, Wörter wie Schaumflocken durch die Gegend geblasen wurden, hochmögendes Silbenschwingen aufflog, köstlicher Silbensalat durcheinandergewirbelt wurde, ein beschwingtes Herumgehopse aufkam, wanddurchdringendes Blickgeschieße sich Bahn brach, Leichtigkeit, Loslösung von der verdammten Erdenschwere uns emportrug – nur mich nicht.
Aber ach – die Passage lässt eben auch erkennen, dass Lewitscharoffs Roman der formelhaften Geschwätzigkeit ihres Protagonisten zu viel Raum gibt. An wenigen gelungen Stellen – etwa dem Szenario des Zungenredens am Romanende – wagt sie sich daran, die pfingstliche Sprachkonfusion als literarisches Formexperiment zu gestalten und das euphorisch-konfuse Stottern der Gemeinde performativ darzustellen. Über weite Strecken jedoch erliegt die souveräne Ausstellung von Dante-Bildungswissen der Gefahr, zur Ästhetik des Romans selbst zu werden. Elsheimer ist einfach zu sehr in den Sprachkonventionen seiner Traktate gefangen, um für den Einbruch des Inkommensurablen und das Erlebnis des Numinosen eine überzeugende, anregende, literarisch kreative Sprache zu finden. Stattdessen begnügt sich der ästhetisch Gebildete mit floskelhaften Bekundungen à la „Was geschah, ist extrem“ oder „Metaphern sind dafür leider nicht geeignet“, also mit Variationen des klassischen Unsagbarkeitstopos, der eben erwähnt, aber kaum sprachlich produktiv gemacht wird. So weicht die literarische Brillanz, zu der die Autorin in ihren gelungenen Werken fähig ist, leider über weite Strecken einer zähen Akademikerprosa. Überdies bekommt die Handlung wenig Raum, sich zu entfalten. Stattdessen bleibt sie stark von essayistischen Erwägungen zu Dantes „Divina Commedia“ abhängig. Was als theoretischer Diskurs durchaus seinen Reiz hat, wirkt als Roman bemüht. Trotz (oder vielleicht auch aufgrund) seines hochfliegenden Gegenstandes fällt „Das Pfingstwunder“ somit ab gegenüber den Szenarien eines entstellten Jenseits, die Lewitscharoff vor einigen Jahren in ihrem beeindruckenden Roman „Consummatus“ mit seinen aberwitzigen Volten und irrlichternden Sprachexperimenten vorgelegt hat.
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