Fontanes lymphatische Blondinen

Auf der Suche nach einer vergessenen Wortbedeutung

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Zur Zeit rekonvaleszent, habe ich reichlich Zeit, im Bett oder Sessel ruhend Fontanes Wälzer Der Stechlin zu hören, kraftvoll-sensibel vorgetragen von Hans Paetsch. Im Kapitel 7 des anfangs stark männerlastigen Romans unterhalten sich drei junge adlige Herren, Woldemar, Rex und Czako, über eine Prinzessin, die einen Bürgerlichen namens Katzler geheiratet hat. Woldemar hat ihr gerade einen Besuch abgestattet und berichtet: 

„Eigentlich ist sie nicht hübsch, Blondine mit großen Vergissmeinnichtaugen und etwas lymphatisch; auch wohl nicht ganz gesund. Aber sonderbar, solche Damen, wenn was in Sicht steht, sehen immer besser aus als in natürlicher Verfassung, ein Zustand, der allerdings bei der Katzler kaum vorkommt. Sie ist noch nicht volle sechs Jahre verheiratet und erwartet mit nächstem das Siebente.“
„Das ist aber doch unerhört. Ich glaube, so was ist Scheidungsgrund.“
„Mir nicht bekannt und auch, offen gestanden, nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls wird es die Prinzessin nicht als Scheidungsgrund nehmen.“ (Quelle: hier)

Rex wundert sich auch, dass ausgerechnet eine Prinzessin so schnell so viele Kinder geboren hat: „Diese Ausgiebigkeit, ich finde kein andres Wort, oder richtiger, ich will kein andres finden, ist doch eigentlich das Bürgerlichste, was es gibt.“

Woldemar erzählt ihm, was die Prinzessin dazu gesagt hat:

„Wer A sagt, der muss auch B sagen. Wenn ich diesen Segen durchaus nicht wollte, dann musst‘ ich einen Durchschnittsprinzen heiraten […] Statt dessen nahm ich aber meinen guten Katzler. Herrlicher Mann. Sie kennen ihn und wissen, er hat die schöne Einfachheit aller stattlichen Männer, und seine Fähigkeiten, soweit sich überhaupt davon sprechen lässt, haben etwas Einseitiges. […] Ich entschloss mich also für das Bürgerliche, und zwar ›voll und ganz‹, wie man jetzt, glaub‘ ich, sagt. Und was dann kam, nun, das war einfach die natürliche Konsequenz.“
„Großartig“, sagte Rex. „[…] Welch ein Maß von Entsagung! Denn auch im Nichtentsagen kann ein Entsagen liegen.“

Czako widerspricht ihm – er habe keine Ahnung von „den Weibern“: „Erinnern Sie sich, Stechlin sagte, sie sei lymphatisch und habe Vergißmeinnichtaugen. Und nun sehen Sie sich den Katzler an. Beinah sechs Fuß und rotblond und das Eiserne Kreuz.“

Die Herren ergehen sich angesichts des „delikaten Themas“ in frivolen Andeutungen, die ich heute, knapp 120 Jahre nach Erscheinen des Romans, nicht mehr zu enträtseln vermag. Ich habe keine Ahnung, was mit „lymphatisch“ hier gemeint ist und was diese Eigenschaft der Frau Katzler mit ihren vielen Geburten zu tun haben soll. 

Mich interessierte aber das Thema, auch aus familiären Gründen. Meine Urgroßmutter, eine thüringische Pfarrfrau, erduldete 16 Geburten, die Fehlgeburten nicht mitgezählt. 8 Kinder überlebten, darunter meine Großmutter. Die Urgroßmutter – eine Zeitgenossin der „lymphatischen“ Prinzessin mit den „Vergissmeinnichtaugen“ – überlebte die Tortur nicht; sie starb mit 45 Jahren. Ohne ihr Martyrium, das offenbar für eine „Bürgerliche“ üblich war und in dem auch sie wohl keinen Scheidungsgrund sah, gäbe es mich nicht.

„Lymphatisch“ war sie allerdings wohl nicht – das Wort habe ich in Bezug auf sie nie gehört. 

Heute ist das Wort nur noch in medizinischer Bedeutung in Gebrauch; statt „Lymphgefäßsystem“ sagt man auch „lymphatisches System“. Auch die Wörterbücher kennen „lymphatisch“ nicht mehr in der Bedeutung, die Fontane verwendet. 

Ich gab „lymphatisch“ in die Textsuche bei Gutenberg.de ein und erhielt 45 Ergebnisse, darunter drei Werke Fontanes: Außer dem Stechlin (1897/8) noch Effi Briest (1894/5) und Schach von Wuthenow (1882): 

Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen, dafür aber langweilig und eingebildet, eine lymphatische Blondine, mit etwas vorspringenden, blöden Augen (Effi Briest)

Das Langweiligste von der Welt ist die lymphatisch-phlegmatische beauté, die beauté par excellence. Sie kränkelt hier, sie kränkelt da, ich will nicht sagen immer und notwendig, aber doch in der Mehrzahl der Fälle … (Schach von Wuthenow)

Diese Funde zeigen mir nur, dass Fontane lymphatische Blondinen nicht leiden konnte. 

Weitere Funde belegen, dass „lymphatisch“ mit Weiblichkeit assoziiert ist – wird ein Mann als „lymphatisch“ bezeichnet, so nur, um ihn als „weibisch“ zu diffamieren. Der gesuchte Zusammenhang zwischen dem Lymphatischsein und dem exzessiven Gebären aber hat sich mir nur durch Michelet erschlossen: 

Die sanguinischen Frauen sind leicht hingerissen, und leiden zu gewissen Zeiten an einem wahren Schwindel. Bei den lymphatischen Naturen ist die Willenskraft außerordentlich gering; sie sind gewohnt, nachzugeben; sie wissen, dass sie so am anmutigsten sind, und das macht, dass sie aus dem Nachgeben nicht herauskommen. Eine Bitte abzuschlagen fällt ihnen zu schwer. (Jules Michelet: Die Liebe)

Fontanes arme Prinzessin Ippe-Büchsenstein (ja, so nennt er sie genüsslich, wohl um sich weiter über sie zu amüsieren) war demnach ihrem „herrlichen Mann“ gegenüber zu willensschwach. Der Kraftmeier, so teilt sie mit, hatte „die schöne Einfachheit aller stattlichen Männer, und seine Fähigkeiten, soweit sich überhaupt davon sprechen lässt, … [hatten] etwas Einseitiges.“ Das soll wohl heißen, der herrliche Mann hatte keine Fähigkeiten außer seiner Zeugungsfähigkeit. Diese lymphatische Blondine ist gar nicht so blöd wie die anderen „Lymphatikerinnen“, die im Anhang (s.u.) durch die Belege geistern. Sie teilt ganz schön aus. Und somit hat der Ironiker Fontane, so meint er vielleicht, das Schmähkonto wieder ausgeglichen. Beide kriegen ihr Fett ab, seien es nun „lymphatische Blondinen“ oder „stattliche Männer“.

Mein Urgroßvater, der meine Urgroßmutter verbrauchte und so früh unter die Erde brachte, war auch ein schöner, stattlicher Mann, mit gemütvollem Blick – schließlich war er Pfarrer. Auch ohne seine Zeugungsfreudigkeit gäbe es mich heute nicht. Soll ich ihn verdammen wie den Herrn Katzler, oder ihm dankbar sein? Als lymphatische Blondine bin ich mit dieser Frage einfach überfordert. 

ANHANG

Eine Statistik des DWDS belegt, dass das Wort „lymphatisch“ seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte, also zur Zeit Fontanes. Die alte Vier-Säfte-Lehre, die die Menschen einteilte in Choleriker (gelbe Galle), Sanguiniker (Blut), Melancholiker (schwarze Galle) und Phlegmatiker (Schleim), wurde wohl wieder mal etwas modernisiert und ausdifferenziert. Griech. Phlegma bedeutet „Schleim“, lymphe „klares Wasser“. Dem Phlegmatiker wurde eine Lymphatikerin zugesellt. Seit 1900 ist die charaktertypologische Bedeutung, mit der wir uns hier befassen, praktisch ausgestorben. Vereinzelt spricht die Naturheilkunde allerdings noch heute von einer „lymphatischen Konstitution“, die immer noch vorzugsweise Frauen attestiert wird. 

Hier eine Auswahl einschlägiger Zitate aus dem Gutenberg-Korpus:

Frau Felicie Feline ist eine junge Französin von fünfundzwanzig Jahren; sie besitzt prächtige Landgüter und ein köstliches Schloß in Burgund. Sie selbst ist, wie Sie wissen, häßlich, aber von schöner Figur und lymphatisch-nervösem Temperament. Sie ist durchaus nicht dumm, aber sicher auch keine geistige Größe. Im ganzen Leben hat sie keinen starken oder pikanten Gedanken gehabt. (Stendhal: Über die Liebe)

Durch einen zu großen Reichtum jener Stoffe, und von phlegmatischen, mit einer lymphatischen Konstitution, mit schwachen, zur Säurebildung neigenden Verdauungsorganen begabten Personen genossen, und in Verbindung mit fader, oder zu nahrhafter und zu wenig reizender Kost, als Eiern und Mehlspeisen, tierischen Fetten, wird die Milch schädlich. (Eugen von Vaerst: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel)

Meine Freundin ist durchaus nicht feuchter, lymphatischer Natur, sondern hat ein mehr merkurialisches Temperament – ich will nur wünschen, daß dies Buch ihr nicht in die Hände kommt – und deshalb mußte ich mich wundern, sie gegen ihre sonstige redselige Weise still in einer Ecke sitzen zu sehen. (Fritz Reuter: Schurr Murr)

Inzwischen hatte sie sich aus einem lymphatischen, plumpen Backfisch in ein dralles Landmädchen verwandelt. (Gorki: Das Leben des Klim Samgin)

Durch sein ständiges Rollen hat das englische Kapital für zehn Milliarden industrielle Werte und Rente bringende Aktien geschaffen, während das französische Kapital, das an Reichtum ihm überlegen ist, nicht den zehnten Teil davon geschaffen hat.“ 
„Das ist um so ungewöhnlicher,“ sagte Roubaud, „als sie lymphatisch und wir im allgemeinen sanguinisch oder nervös sind.“ (Balzac: Der Dorfpfarrer)

Einige lymphatische Frauen werden tun, als hätten sie den Spleen, und werden die Tote spielen, um der Annehmlichkeiten einer stillschweigenden Scheidung teilhaftig zu werden. (Balzac: Physiologie der Ehe)

Von der Weichheit eines nassen Schwammes bis zur Härte eines Bimssteins gibt es unendliche Abstufungen. So ist es auch mit dem Menschen. Zwischen der schwammigen Organisation lymphatischer Menschen und der metallischen Muskelhärte derjenigen, die zu einem langen Leben bestimmt sind … (Balzac: Das Chagrinleder)

Vom Leben hatte sie keine Ahnung; gewöhnt, von ihrer Mutter bedient zu werden, die selber die Wirtschaft besorgte, und genötigt, sich wegen ihrer lymphatischen Konstitution, die sie bei der geringsten Arbeit ermüden ließ, nur wenig zu bewegen, war sie so recht ein Pariser Volkskind… (Balzac: Die Kleinbürger)

Alexandrine war eine Frau von dreißig Jahren mit einer lymphatischen, fast blutleeren Haut. (Edmond de Goncourt: Die Dirne Elisa)

Von Menschen beherrscht der Mond vor allem die Mutter, aber auch Schwestern und Töchter, die Gattin, in der Politik das Volk. Körperlich macht der Mond die lymphatischen, etwas schwammigen Konstitutionen. Oft gibt er jene bekannten bleichen Vollmondgesichter. (Oscar Adolf Hermann Schmitz: Der Geist der Astrologie)

Der eine gehörte der nervig-blutvollen Rasse Frankreichs an, die in den Ausbrüchen ihres Überschwangs bis an die äussersten Grenzen geht. Der andre stammte von den Männern des Nordens, die, lymphatisch und bleich, kalt wie das Meer erscheinen, dessen Söhne sie sind, die aber auch aufbrausen können wie das Meer, jenen Nordländern, die ihr starrendes Blut durch die Flamme der geistigen Getränke (high-spirits) zu erhitzen lieben. (Jules Amedée Barbey d‘Aurevilly: Vom Dandytum und von G. Brummell)

Damals war der Prinz von Wales zweiunddreissig Jahre alt. Seine Schönheit war die lymphatische, starre Schönheit des Hauses Hannover, aber er war bestrebt, sie durch prächtige Kleidung zu steigern … (Jules Amedée Barbey d‘Aurevilly: Vom Dandytum und von G. Brummell)

Verfolgt man die Konsequenzen weiter, so stellt sich das cholerisch-sanguinische Temperament als das männliche, das phlegmatisch-lymphatische als das weibliche dar; im männlichen Geschlecht verkörpert sich das progressive oder zentrifugale Element, das die Art erneuert und umbildet, im weiblichen Geschlecht das konservative oder zentripetale, das die Art unverändert bewahrt und erhält. (Rosa Mayreder: Zur Kritik der Weiblichkeit)

Ein liebloses Zuhause. Der Vater, ein Arbeiter in Linden, kümmert sich nicht um die Kinder. Ebensowenig die Mutter, eine stumpfe, wasserblonde, lymphatische Frau. (Theodor Lessing: Haarmann)

Gibelotte, eine hochaufgeschossene Person von lymphatischer Komplexion, die mit ihren schwarzumränderten Augen und schläfrig gesenkten Augenwimpern wie die verkörperte Müdigkeit aussah, bediente Jedermann, auch die andere Magd mit demselben stereotypen, matten Lächeln. (Victor Hugo: Die Elenden)

 Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.