Wer nicht hören will, muss lesen?

Jochen Hörisch versucht sich in „Pop und Papageno. Über das Spannungsverhältnis zwischen U- und E-Musik“ als Musik-Komparatist

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Musikhistoriker erklärt uns den Affenbrotbaum, – das ist im großen ganzen immer die Lage“ – so beginnt einer der „Maulwürfe“ von Günter Eich. Man darf gespannt sein, wie es ausgeht, wenn uns der Mannheimer Germanist und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch in Pop und Papageno die Musik erklärt, jedenfalls in ihrer U- und E-Ausprägung.

Das Bändchen mit dem kontrastreich gestalteten Cover – pop-pink und klassikschwarz – ist die überarbeitete Fassung einer 2015 im SWR ausgestrahlten Vortragsreihe. Von den dort zu hörenden Tonbeispielen – schon das ist die Crux des ganzen Essays – sind nurmehr die Song- beziehungsweise Liedtexte übriggeblieben. Sie nehmen mit rund 30 Druckseiten ein Viertel des schmalen Bandes ein. An ihnen entfaltet der Verfasser seine hermeneutischen Künste, vor allem seine Vorliebe für hintersinnige Buchstabensymbolik und intertextuelle Pirouetten aus den dekonstruktiv-textphilologischen Arbeiten der 1980er-Jahre lebt wieder auf. Er betreibt eine Musikphilologie, die keine Noten-, sondern nur Liedtexte kennt. Der von Hörisch anerkennend zitierte Germanist Heinrich Detering hat das mit seiner Bob-Dylan-Philologie vorgemacht. Dies führt zu interessanten Einzelbeobachtungen, etwa wenn im Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ per Akrostichon ein LSD-Bezug sichtbar wird oder aus „Yellow Submarine“ ein medientechnischer Konnex von Hifi- und Militärtechnologie herausgelesen wird. Wenn man die Befunde solcher Lektüren überhaupt einer Argumentationslinie zuordnen will, ließe sich sagen, dass es dem Autor darum geht, Popmusik über den Nachweis der Komplexität ihrer Texte aufzuwerten und manche Fälle von E-Musik in ihrer Popqualität zu erweisen. Schief wird dies, wenn es etwa zu Wolfgang Amadeus Mozart heißt: „Viele seiner Kompositionen sind zweifellos populär, ja sie sind Pop-Musik“. Wenn das so wäre, hätte es einer Pop-Adaption Mozarts durch den Sänger Falco („Rock me Amadeus“) kaum mehr bedurft. Oder wenn in anachronistischer Verzerrung unter Wörtlichnehmen der Metapher Niccolò Paganini als Popstar des 19. Jahrhunderts und Johann Wolfgang von Goethe als Pop-Autor bezeichnet werden. Ähnlichkeiten im Musikbetrieb sagen nichts über die Musik aus. Ein Vergleich von Franz Schuberts „Ave Maria“ und Paul McCartneys „Let it be“ scheint Hörisch plausibel, weil – man lese und staune – „dessen Mutter Mary hieß“. Das ist hanebüchen (oder verkappte Selbstpersiflage?) und mehr als nur schief.

Solche Vergleiche können das Verhältnis von U- und E-Musik nicht klären – daran krankt die ganze Gedankenführung –, weil schlicht die Musik ausgespart bleibt. Der Textexeget Hörisch scheint einer déformation professionelle aufgesessen zu sein. Wo sich ein Vergleich auf struktureller Ebene zwischen beiden Musikgattungen anbietet – die Variation beziehungsweise Neuinterpretation desselben Themas – erkennt der Verfasser nicht die naheliegenden Analoga zu so etwas wie den Händel-Variationen von Johannes Brahms oder den „La Follia“-Variationen in der Alten Musik: die Coverversion eines Songs im Pop oder die Neuinterpretation eines Jazzstandards. Stattdessen flüchtet er sich wieder in den Text eines vergessenen Kabarettsongs aus den 1930er-Jahren.

Wo Hörisch das Lied als gemeinsame Form anführt, kommt unversehens über die suggestive Gleichsetzung von „populär“ und „popförmig“ die Unterscheidung Volkslied versus Kunstlied ins Spiel, die nun keineswegs mit der E-U-Distinktion zusammenfällt. Überhaupt täuschen Wortassoziationen notorisch über mangelnde Begriffsschärfe hinweg. Dass „Popmusik“ nicht eo ipso sinngleich mit populärer und Unterhaltungsmusik ist, dürfte auch für Nicht-Musikologen auf der Hand liegen. Eher beiläufig wirken erhellende Bemerkungen zur medientechnischen Demarkation zwischen Pop und der populären Musik des 19. Jahrhunderts oder zur Affinität von Film und Musik im vorletzten Kapitel. Hier tritt die Textlektüre zurück; Film und Musik werden als Zeitkünste zueinander ins Verhältnis gesetzt, wenn es auch Theodor W. Adorno ist, der die gedankliche Substanz dazu liefert und hier wie an anderen Stellen extensiv-seitenfüllend zitiert wird.

Der Autor vermeidet konsequent eine inhaltliche Bestimmung von E- und U-Musik; das wäre nicht nur ihm, sondern dem gesamten kultur- und medienwissenschaftlichen Diskurs unserer Tage viel zu substanzialistisch und wertungsbesetzt. Die Erosion des Leitschemas von E- und U-Kultur, Hoch- versus Pop- beziehungsweise „Trivialkultur“ seit der Postmoderne ist längst auf die Kategorisierungen der sie thematisierenden Diskurse durchgeschlagen, was ein Thema für sich wäre. Der Verfasser behandelt seinen Gegenstand indes so unbekümmert, als wüsste er nicht um diese epochale Erosion mit all ihren wertungsästhetischen, medialen und kultursoziologischen Implikationen. Stattdessen fasst er das Verhältnis der Musikgenres differenztheoretisch: „E- und U-Kultur haben erstens gemeinsam, dass sie beide Kultur sind und zweitens, dass sie darüber hinaus die Gemeinsamkeit pflegen, sich voneinander abzusetzen. […] sie sind das jeweils andere ihrer selbst; […] sie brauchen einander, sie sind feindliche Geschwister“.

Dass es auch durchaus noch anders geht, beweist ein viel zu wenig bekannter Essay des Musikpublizisten Jens Hagestedt: „Über den Unterschied zwischen ,ernster‘ und ,Unterhaltungsmusik‘“ (2008), der, auf einem ungleich höheren begrifflichen und argumentativen Niveau als Hörisch, eine sehr differenzierte musikphänomenologische Bestimmung der „feindlichen Geschwister“ leistet, freilich mit anders verteilten Wertsympathien.

Im zentralen dritten Kapitel behandelt Hörisch, wiederum mit Adorno als Gedankenquelle, die „Paradoxien der Avantgarde-Musik“. Anstatt die Gedanken des Frankfurter Philosophen aus seiner einschlägigen Schrift „Das Altern der Neuen Musik“, welche moderneskeptisch die später einsetzende Debatte um die Überwindung der Avantgarde in der Postmoderne antizipiert, weiterzudenken, setzt er einfach ein Geschmacksurteil dagegen: Hörisch macht keinen Hehl aus seiner Vorliebe für neotonale Musik wie die von Arvo Pärt und schließt das Kapitel mit einem pausbäckigen Appell an die Musikschaffenden, doch bitteschön einen „unerhörten Kompromiss zwischen Tradition und Moderne, zwischen E- und U-Musik zu schaffen“.

Eine ähnliche Option („Tonalität als Neue Synthese“) hat vor rund 30 Jahren schon Peter Sloterdijk in seinem Beitrag zur damals virulenten Postmoderne-Diskussion verfochten, dem Großessay „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“ (1987), der mit seinem weitgespannten gedanklichen Rahmen und einem Volumen von über 120 Seiten der Problemlage angemessener sein dürfte als Hörischs saloppe Empfehlungen.

Im Schlusskapitel, das der Affinität von erotischer Leidenschaft und Musik gewidmet ist, hangelt sich Hörisch wieder von Gedichttexten (Rainer Maria Rilke, Goethe) zu Schlagern und Chansons („Je t‘ aime“) bis hin zu Richard Wagner – es sind, wie sollte es bei dem so weitläufigen wie abgedroschenen Thema anders sein, nur assoziative Streiflichter.

Das Stichwort ,Crossover‘ fällt im ganzen Buch nicht; es wäre für das Spannungsverhältnis zwischen U- und E-Musik wohl aufschlussreicher als so manche Hör- und Lesefrucht, die der Autor uns auftischt. Klassiker wie Jacques Loussier („Play Bach“) sind dem Verfasser offenbar genauso ungeläufig wie jüngste Tendenzen in der Alte-Musik-Szene, die streng historische Spielpraxis durch Anklänge an das Jazzidiom aufzulockern (etwa Christina Pluhars Ensemble „L’ arpeggiata“). Es gibt seit geraumer Zeit einen Grenzbereich zwischen Neuer Musik, Jazz und Folklore beziehungsweise Weltmusik – das Label ECM steht am prominentesten dafür –, bei dem die E-U-Kategorisierung durch die Musik selbst aufgehoben wird. All das hätte freilich erst einmal mit Musik und nicht mit Texten zu tun.

Schließlich ist verblüffend, dass ausgerechnet ein Medienwissenschaftler wie Jochen Hörisch kein Gespür dafür hat, dass ein Text, der im Medium Rundfunk eine geistreiche und unterhaltsame Plauderei abgibt, in einer Eins-zu-Eins-Verschriftung zum Lesetext – noch dazu ohne Tonbeispiele und unter Beibehaltung eines salopp-witzelnden Tonfalls – seine Qualität verliert. Muss, wer nicht hören will, lesen? Nein, jedenfalls nicht solche Elaborate Hörisch’scher Musik-Komparatistik, die das vom Wilhelm Fink Verlag gewohnte hohe Niveau auf bestürzende Weise unterschreiten. Vom Kauf sei dringendst abgeraten, wenn man sich nicht – so der ursprüngliche Titel der Vortragsreihe – ein E für ein U vormachen lassen will.

Titelbild

Jochen Hörisch: Pop und Papageno. Über das Spannungsverhältnis zwischen U- und E-Musik.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
119 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560813

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