Einschlafgeschichten

Nicht alles, was Axel Hacke seinen Kindern am Bett erzählt, ist es wert, weitererzählt zu werden

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dann erzähl es uns bitte noch einmal ganz genau!“, verlangen die Kinder des Ich-Erzählers auf der letzten Seite des Buchs. Kurz vorher kommen Standing Ovations: „Und sie umarmten mich und riefen, wie schön sie es fänden, dass ich so schöne Geschichten erfinden könne und ihren Alltag mit so detailreich erfundenen Erzählungen bereichere und verziere.“ Es sind Geschichten über einen depressiven Alten mit magischen Fähigkeiten, den der Autor, nachdem er sich eine Weile ziert, schließlich „Gott“ nennt und mit dem er auf Stammtischniveau über sich und die Welt philosophiert. (Falls eine Stammtischrunde das als Beleidigung auffassen sollte, entschuldigt sich der Rezensent hiermit.) Über „Detailreichtum“, „Bereicherung“ und „Verzierung“ wird sich der Leser, der sich die Plaudereien mit „Gott“ zu Gemüte führt, hoffentlich seine eigene Meinung bilden. Der Autor der wohl am Bett der Kinder entstandenen Einschlafgeschichten berauscht sich indes an seinem Eigenlob, vielleicht ist der „Großmeister der Kolumne“ (Deutschlandradio Kultur) und Bestsellerautor über infantile Hörfehler („Der weiße Neger Wumbaba“) auf Zugaben konditioniert, jedenfalls versetzt er das fiktive familiale Begehren umgehend in den Realitätsmodus und wiederholt in der Art eines Abstracts oder Klappentextes die wichtigsten Stationen seiner Geschichte.

So viel Chuzpe fordert den Rezensenten heraus, und zwar erneut und wiederholt. Denn das fängt bereits mit dem Titel des Büchleins: „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ an. Wenn dieser nicht auf den tschechischen Sänger Karel Gott gemünzt ist, dann bleiben nur drei Möglichkeiten, sich darauf einen Reim zu machen: Erstens, dass es sich bei der erzählten Geschichte um kompletten Nonsens handelt, MassaWumbaba lässt grüßen. Zweitens, dass der Begriff „Gott“ satirisch verwendet wird, damit also jemand anderes gemeint ist als der Allmächtige, oder drittens, dass der Autor ihn ernst nimmt und ein mystisch-religiöses oder auch antireligiöses Erbauungsbuch verfassen wollte. Ich nehme an, dass Herr Hacke sich darüber keinen Kopf machte und all das miteinander verquirlt hat. Was durchaus legitim ist, als Einschlafgeschichte am Bett der Kinder.

Nur ist eben nicht alles, was sich Kinder vor dem Einschlafen ergeben anhören, deswegen gleich eine gute Geschichte, und nicht alles, was man improvisiert, eignet sich dazu, aufgeschrieben und veröffentlicht zu werden. Beziehungsweise, wenn man das tut, auf eigene Gefahr. Das Lesepublikum sitzt nämlich sozusagen mit am Bett, lässt sich aber nicht von väterlicher Nähe und Stimme einlullen. Schließlich wurde ordentlich geblecht für das Buch (normalerweise) und mancher ist jederzeit bereit, mit dem Messer analytischer Schärfe oder auch dem Hackebeil bloßer Antipathie auf die Geschichte loszugehen.

Kritik an der Erzählsituation, die das Buch ausdrücklich zur Schau stellt, hat einen guten Grund: Zu vermuten ist, dass die narrativen Schwächen dieser belanglosen und einschläfernden (dabei aber psychologisch keineswegs unergiebigen) Improvisationen unter anderem der Spontaneität des freien Erzählens geschuldet sind.

Besonders am Anfang spürt man geradezu schmerzlich, wie der Erzähler sich mühsam die zähflüssigen Sätze aus den Rippen schwitzt. Vollmundig wird eine „seltsame Geschichte“ angekündigt, die mit einer Reise beginnen soll, zu der dem Autor aber erst einmal nichts anderes einfällt, als dass er auf dem Rückweg von der „anderen Stadt“, in der er „zu tun“ und das dann auch „erledigt hat“, gleich wieder im Zug nach Hause sitzt. Man glaubt zu fühlen, wie er mit der einen Hirnhälfte die Banalitäten weiterspinnt und mit der anderen nach einem Einfall sucht. Es ist Nacht, der Erzähler schaut aus dem Zugfenster, sieht sein Spiegelbild, selbiges wiederum ihn, und nun will er uns weismachen, dass man bei dem einen ganzen Absatz lang breitgetretenen Hin und Her „vergisst, wer man ist“. Im Sport würde man so etwas einen Fehlstart nennen. In der Geriatrie Alzheimer. Für eine Gutenachtgeschichte – wir stellen uns vor, der Rotwein oder kaltgestellter Champagner wartet – muss das gar nicht mal so ungeschickt sein, vielleicht sind die lieben Kleinen schon am Einschlafen. Aber nun ist Buchmodus für Leser. Daher kommt jetzt schnell wieder so eine Großankündigung: „Aber was nun kam, ist vielleicht noch nie jemandem passiert, und das, was danach geschah, schon gar nicht.“ Dann dauert es erst einmal wieder einen drögen Absatz lang, bis der Erzähler mit der Sprache rausrückt: Das Spiegelbild nimmt langsam Fahrt auf und fährt davon. Dieser wiederholte und somit bekräftigte Ich-Verlust liefert nicht unbedingt eine positive Prognose für eine Erzählung, als psychologischer Schlüssel für den Subtext ist er möglicherweise interessant. Falls das Motiv nicht einfach von Agatha Christies „16 Uhr 50 ab Paddington“ abgekupfert ist. Denn das nächste stammt aus Kästners „Emil und die Detektive“: Der Zug verlässt die Gleise und fährt in die „beschauliche Innenstadtstraße“ hinein. Freilich funktioniert Kästners Albtraum dramaturgisch, wogegen die Kopie, wie überhaupt Hackes Erzählung mit ihrer kleinfamiliären Idylle, der kurierten Bürowelt und dem „melancholischen Alten“ (Klappentext), einem ins Demütige gestutzten Gott, an Kitsch grenzt. Die Schubladen in den Häusern etwas später erinnern uns zudem an Dalís „brennende Giraffe“, das „Große Egal“ an Camus „Fremden“, „Wespe und Raupe“ an unzählige Nahaufnahmen und Zeitlupen in Naturfilmen und der ganze Plot an Ludwig Thomas’ „Ein Münchner im Himmel“.

Von der privat-intimen Gutenachtgeschichte aus dem Stehgreif zur Literatur ist es ein langer Weg, den man sich seitens Autor und Verlag offenkundig erspart hat. Das Grundproblem dieses Buchs aber liegt tiefer. Obwohl der Erzähler seine kindlichen Adressaten vor sich sieht, ist das Buch nicht für Kinder geschrieben. Für Erwachsene indes auch nicht. Und erst recht nicht für beide gleichzeitig. Im Grunde genommen schreibt der Autor nur für sich selbst. Man kann das „symptomatisches Schreiben“ nennen, weil die Relevanz eines solchen Textes nicht weiter reicht als die subjektive Komplexproblematik des Erzählers. Im letzten Absatz seiner Geschichte geht dieser wieder einmal ins Büro. Die stehengebliebene Standuhr, zentrales väterliches Relikt, ist mit magischer Hilfe verschwunden, exakt in diese Lücke legt der Sohn einen ihm kurz zuvor überlassenen göttlichen Dirigentenstab. Warum eigentlich? Wegen der romantischen Allegorie mit dem Holzhammer und dem Happy End: „Und ich ging an die Arbeit. Lächelnd und entschlossen ging ich an die Arbeit.“

Es ist nicht schwer, hier aber auch nicht der Ort, den Vaterkomplex des Ich-Erzählers aufzudröseln. Kurz sollen einige der Symbole und insbesondere die Gottesfigur im Kontext des Texts hinterfragt werden, und zwar allein schon deswegen, um nachzuweisen, dass erstens keine „wunderbare Parabel auf das Leben“ (Klappentext) vorliegt und zweitens, dass das unreflektierte Herumeiern zwischen Kinderperspektive und Erwachsenenproblematik zwar durchaus eine positive Auswirkung auf einen subjektiven neurotischen Komplex haben kann, aber nicht zur Unterhaltung eines Publikums egal welchen Alters geeignet ist. Erst recht werden keine gültigen Sinnfragen gestellt, geschweige denn mögliche Urteile über „Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer sogenannten Schöpfung“ (Klappentext) .

Nehmen wir zum Beispiel den Büro-Elefanten, die erste Figur, die dem Ich-Erzähler nach der Zugfahrt in seinem Haus begegnet. Kinder werden sich darunter so etwas wie ein 25 Zentimeter großes, verlebendigtes Schmusetier vorstellen, das aber ansonsten keinen aktiven Part in der größtenteils aus abstrakten Dialogen bestehenden Handlung hat. Im Prinzip handelt es sich um einen Hund. Funktional spielt er die Rolle des Alter Egos des Ich-Erzählers. Recherchiert man im Internet nach diesem merkwürdigen Wesen, stößt man auf das Ansporn-Brevier von Wolfgang Helbig und Hedda Pommrich, eine Sammlung betriebswirtschaftlicher Zeitschriftenartikel mit Ratgebercharakter. Im 51. Kapitel findet sich eine interessante Zusammenfassung des Büro-Elefanten: „Sind Sie ihm schon begegnet? Sicherlich. Er kommt unbekümmert des Weges daher, trampelt auf Gefühlen herum, zertritt zarte Keime der Freundschaft, kurz, er lässt, wo immer er seine plumpen Füße setzt, verletzte Seelen zurück.“ Ist das der Schlüssel zu unserem Ich-Erzähler in einer Geschichte, die mit einer Dienstreise beginnt und mit dem Gang ins Büro endet? Hintergrund für diese Metapher des Büro-Elefanten ist die Redensart vom Elefanten im Porzellanladen. Schwer vorstellbar, dass Hackes Büro-Elefant nichts mit dieser Metapher zu tun hat. Wenn er aber damit zu assoziieren ist, dann gibt es keine Repräsentanz für dieses Bild in den Tagen mit Gott. Die Metapher ist vielmehr entkernt und verniedlicht.

Bald darauf trifft der Erzähler einen sprachlich umständlich eingeführten „alten Herrn“, der ihn vor einer Allegorie (Globus) rettet, die ihm auf den Kopf zu fallen drohte. Nach einigen Zauberkunststücken des neuen Bekannten räsoniert der Erzähler umständlich über den Schöpfer der Welt und dessen Werk, nennt den Zauberer versuchsweise „Erschaffer der Welt“ und mit dessen Billigung schließlich „Gott“. Dabei begeht er den plumpen Irrtum, davon auszugehen, dass allein dieser Begriff und einige dahinphantasierte Kunststücke die Figur hinreichend beglaubigen. Es ist schon erstaunlich naiv, seiner vermeintlichen narrativen Allmacht so aufzusitzen. Indes ist diese erzählerische Arbeit am großen Magier unabdingbare Voraussetzung, um ihn überhaupt erst demontieren zu können. Der Rezensent führt diesen klaffenden inneren Widerspruch auf das innere Durcheinander von Erzähler-Ich und dessen inneres Kind zurück. Wohl infolgedessen entgeht dem Autor dann auch die auktoriale Einfalt gegenüber seinem Gott: „Der Büro-Elefant legte sich unter die Bank und so saßen und lagen wir da, als sich ans andere Ende der Bank ein Mann setzte, den ich nicht kannte, aber schon oft im Viertel gesehen hatte, ein alter Herr. Wie selten man das heute sagt, nicht wahr? Ein alter Herr. Liegt es daran, dass es immer weniger alte Herren gibt? Oder dass einfach niemand mehr alt sein will? Oder dass das Wort ,Herr‘ so unbeliebt geworden ist, weil … Mann, ich weiß es doch auch nicht!“ Um etwas nachzuhelfen: „Alter Herr“ bezeichnet laut Wikipedia entweder das Mitglied einer Studentenverbindung nach dem Studium, einen Fußballer in einer fortgeschrittenen Altersklasse oder umgangssprachlich den Vater. All das klingt etwas veraltet. Ist aber kein Grund für Sentimentalitäten.

Apropos Zeit: Von einem auch nur ansatzweisen narrativen Versuch einer Gottesfigur könnten Leser schon ein bisschen mehr erwarten. Zum Beispiel wenn der Alte erzählt, dass er sechs Milliarden Jahre brauchte, bis er sich zum Urknallen entschließen konnte. Unsere Kosmologen, die den Urknall 13,8 Milliarden Jahre in die Vergangenheit datieren, sprechen nicht öffentlich darüber, dass diese Zeitangabe überaus absurd anmutet, da das „Jahr“ als Maß der Umkreisung der Erde um die Sonne frühestens mit der Sonne und dem Sonnensystem entstanden sein konnte und man alles, was davor war, definitiv anders bezeichnen müsste. Normalerweise ist die Abschaffung der Alltagsbegriffe das Erste, was Wissenschaft unternimmt, wenn sie sich etabliert. Eine Aussage, was Sekunden, Stunden usw. nach dem Urknall passierte, klingt grotesk terrazentrisch. Vielleicht sind wir Menschen zu stark in unserem kleinen Kosmos verwurzelt. Aber Gott? Und so lange vor dem Urknall?

Der alte Montaigne hat in einem seiner Essays sehr richtig und in gewisser Weise auch physikalisch-mathematisch korrekt festgehalten: „Um über große und erhabene Sachen zu urteilen, wird eine große und erhabene Seele erfordert, sonst leihen wir ihnen unsere eigene Kleinheit.“ Ein Komiker hat den uns Alten bekannten Werbespruch „nur wo Omo draufsteht ist auch Omo drin“ in das Bonmot abgewandelt: „Nur wo Otto draufliegt ist auch Otto drin.“ Analog kann resümiert werden: Nicht überall wo „Gott“ draufsteht, ist auch Gott drin. Aber vielleicht hat Axel Hacke mit „Gott“ doch den guten alten Karel, den Tschechen mit der schönen Stimme, gemeint.

Titelbild

Axel Hacke: Die Tage, die ich mit Gott verbrachte.
Mit Bildern von Michael Sowa.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
102 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783956141188

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