Wie hast du’s mit der Interpretation?

Ein Sammelband von Marie Lessing-Sattari, Maike Löhden, Almuth Meißner und Dorothee Wieser initiiert den Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik über Theorie und Praxis des Interpretierens

Von Thomas BergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Berger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband „Interpretationskulturen“ verfolgt ein wichtiges Anliegen: Das Verhältnis der Literaturdidaktik zu ihrer – einstigen – „Leitwissenschaft“ neu zu bestimmen, ist ein Desiderat, und zwar aus vielerlei Perspektiven. Traditionell stellt sich die Frage, inwiefern die Literaturwissenschaft mit ihren neueren Entwicklungen für die Literaturdidaktik noch eine Rolle spielen kann und sollte. In Hinblick auf das gemeinsame universitäre Praxisfeld sollten sich beide Disziplinen darüber verständigen, wie sie bei der Ausbildung künftiger Deutschlehrer an einem Strang ziehen und sich über ggf. vorhandene Unterschiede in ihrer Lehrkultur reflektiert austauschen können. Schließlich ist in Hinblick auf das vorrangig von der Literaturdidaktik bespielte Handlungsfeld Schule zu fragen, inwiefern hier literaturwissenschaftliche bzw. wissenschaftspropädeutische Kenntnisse vermittelt werden sollten. Interpretationspraktiken, auf die sich der vorliegende Sammelband konzentriert, sind hierbei von zentraler Bedeutung.

Der Anstoß zum Dialog kommt von literaturdidaktischer Seite. Literaturwissenschaftler setzen sich qua Profession nicht automatisch mit Literaturdidaktik auseinander, während Literaturdidaktiker in der Regel auch studierte oder gar promovierte Literaturwissenschaftler sind. Insofern sind sie in ihrer Schwesterdisziplin wesentlich bewanderter als umgekehrt reine Literaturwissenschaftler in der Literaturdidaktik. Von daher scheint es fast so, als könne die Literaturdidaktik ihren Dialog mit der Literaturwissenschaft gleich in Personalunion führen, und viele fachdidaktische Beiträge des Bandes  bestätigen diese Vorahnung: Oft scheint der Bezug auf Literaturwissenschaft präsenter als der zum schulischen Handlungsfeld, und Fachdidaktiker und Fachdidaktikerinnen scheuen sich nicht, Forschungsdiskurse der Literaturwissenschaft kritisch reflektierend aufzugreifen oder gar synoptisch darzustellen – dies wäre umgekehrt kaum vorstellbar. Für das erwähnte universitäre Handlungsfeld wäre eine Kooperation beider Disziplinen sinnvoll, um Lehrangebot und Lehrmethoden insgesamt noch stärker auf die Bedürfnisse von künftigen Deutschlehrern auszurichten oder auch derartige Forderungen reflektiert zurückzuweisen. Inwieweit Literaturdidaktik auf konkrete hochschuldidaktische Desiderate Antworten zu geben vermag, sei dahingestellt; unstrittig erscheint mir, dass sich beide Disziplinen über ihre Lehrpraxis austauschen sollten.

Wo so viel Anlass zum Dialog besteht, erscheint es schwierig, Ziele und Inhalte des Austauschs genau zu bestimmen. Der einführende Beitrag der Mitherausgeberin Dorothee Wieser ist ein sowohl literaturdidaktisch als auch literaturwissenschaftlich informierter, breit angelegter Problemaufriss, der unterschiedliche Felder hinsichtlich der Erforschung beider „Interpretationskulturen“ benennt. Im zweiten einführenden Beitrag von Marie Lessing-Sattari wird – ausgehend von Überlegungen zum Hermeneutischen Zirkel – die Problemlöseforschung zur Analyse und Modellierung von Interpretationsprozessen in Stellung gebracht. Ob dieser originelle Zugriff in künftigen Forschungen zu Interpretationskulturen aufgegriffen wird, bleibt abzuwarten. Insgesamt präsentieren die beiden einführenden Beiträge vor allem Forschungsperspektiven. Als Leser wünschte man sich jedoch zudem noch eine prägnantere Hinführung zu den Kernproblemen der einzelnen Beiträge des vorliegenden Bands und zu der Frage, inwiefern zwischen ihnen ein Zusammenhang besteht bzw. ein „Dialog“ zustande kommt.

Dieser Befund mag auch ein Grund für die Entscheidung gewesen sein, vor die einführenden Beiträge eine Reflexion der Tagung aus literaturdidaktischer Perspektive zu setzen. Juliane Köster setzt hier die einzelnen Tagungsbeiträge systematisch in Beziehung und kommt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Der Rezensent räumt freimütig ein, diese Zusammenfassung erst nach der Lektüre der Einzelbeiträge gelesen zu haben, also dem durch die Anordnung des Bands implizit unterbreiteten Vorschlag zur vorgängigen Lektüre der Tagungsreflexion nicht gefolgt zu sein. Und da stellte sich bei der Lektüre der Tagungsreflexion das Gefühl ein, dass sich die scheinbare Folgerichtigkeit der Beiträge eher dem synthetisierenden, konsequent auf das aus fachdidaktischer Perspektive Verwertbare gerichteten Blick von Juliane Köster verdankt, als einem wirklichen inneren Zusammenhang der Einzelbeiträge. Erwähnt werden muss aber auch, dass Köster zusätzlich auf die Tagungsdiskussion und auf den im Band fehlenden Beitrag von Andrea Polaschegg Bezug nimmt; es wäre also durchaus möglich, dass sich der Dialog tatsächlich vor allem im Tagungsgespräch entfaltet hat.

Die Einzelbeiträge des Bandes sind durchweg thematisch interessant. Von literaturwissenschaftlichen Spezialbeiträgen ist allerdings kaum ein Dialogangebot zu erwarten, auch wenn sie sich mehr oder weniger unmittelbar auf Interpretationskulturen beziehen. Dies gilt für die terminologisch hochdifferenzierten Aufschlüsselungen der oft (zu) pauschal bezeichneten Kategorie „Leser“ im Beitrag von Markus Villand und die von Ralf Klausnitzer beschriebenen subtilen Regeln in Interpretationsgemeinschaften bis hin zu den Ausführungen zu Eigenart und Stellenwert von Modellinterpretationen bei Claudius Sittig. Eine Ausnahme bildet Tom Kindt, der sich explizit für Vermittlungsprozesse interessiert und dessen Unterscheidung von „Deskription“ und „Interpretation“ auch fachdidaktisch unmittelbar anschlussfähig zu sein scheint. Solche grundlegenden Anschlussmöglichkeiten explizit zu suchen, scheint im Sinne der Zusammenarbeit beider Wissenschaften insbesondere auch im Bereich der universitären Lehre von Wichtigkeit.

Die fachdidaktischen Beiträge sind allesamt literaturwissenschaftlich informiert, was dann wiederum teilweise zu schulfernen Reflexionen führt, wie z.B. im Beitrag von Almuth Meissner, den man eher von einer Literaturwissenschaftlerin erwarten würde. Hier werden Lehrwerkaufgaben hinsichtlich ihrer Konsistenz in Bezug auf einen literaturwissenschaftlichen Hintergrund befragt. Es zeigt sich, dass die Lehrwerkanalyse an sich noch keinen relevanten Bezug auf das Handlungsfeld Schule garantiert – was vielleicht aber auch gar nicht intendiert war. Dass es auch anders geht, zeigen vor allem die Beiträge von Irene Pieper und Kaspar H. Spinner, die hier explizit erwähnt seien. Pieper leistet eine überaus plausible Analyse zur Konstitution des Gegenstands Literatur in Unterrichtmaterialien. Die Lehren aus einer derartigen Analyse sollten dazu führen, Lehrwerkkonzeptionen zu überdenken und sowohl aus literaturdidaktischer als auch literaturwissenschaftlicher Sicht besseres Unterrichtsmaterial zu erstellen. Auch Piepers Reflexion von Unterrichtsgesprächen hat diesbezüglich paradigmatischen Charakter. Anzumerken bleibt, dass über die kritisch-distanzierte Analyse hinaus Darstellungen von Best-practice-Beispielen sowohl von Unterrichtsmaterial als auch von darauf aufbauenden, realen Stundenverläufen einen unschätzbaren Wert für die Lehramtsausbildung hätten. Spinner kann in seinem Beitrag zum wertschätzenden Interpretieren zwar nicht auf konkrete Beispiele aus der Schulpraxis verweisen, doch hat er die spezifischen Möglichkeiten und Chancen des schulischen Zugriffs auf Literatur immer im Blick und konturiert – ebenfalls sehr plausibel und differenziert – die Unterschiedlichkeit der Zielsetzungen von schulischen und literaturwissenschaftlichen Interpretationsbemühungen; auch dies ist m.E. ein Ziel des Dialogs, das jederzeit präsent sein sollte.

Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass ein wirklicher Dialog bzw. ein Blick auf den Dialog aus unterschiedlichen Perspektiven nur in Ansätzen zustande kommt. Dabei sind die Bemühungen der Organisatorinnen bzw. Herausgeberinnen durchgehend spürbar, der Tagung bzw. dem Band einen roten Faden zu geben, sei es durch die Vorauswahl von Texten, auf die sich verschiedene Beiträge beziehen, sei es durch Verweise innerhalb der einzelnen Beiträge auf andere Beiträge oder sei es durch die Konturierung der Forschungsperspektive. All dies führt nur leider kaum dazu, einen inneren Zusammenhang zwischen den Beiträgen zu stiften.

Hinsichtlich der Forschungsperspektive ist festzustellen, dass der erkenntnisleitende Begriff „Interpretationskultur“ nicht eingehend reflektiert wird. In den Tagungsbeiträgen wird er nicht einmal durchgehend verwendet. Schon Wieser definiert ihn nicht, sondern ersetzt ihn in ihrem Einführungsvortrag durch „konkrete Interpretationspraktiken“ , was zumindest eine – durchaus hilfreiche, aber eben nicht weiter diskutierte – Verengung des Begriffs darstellen dürfte. In anderen Beiträgen wiederum ist von „Interpretationsgemeinschaften“ die Rede. Man sieht, dass die „praxeologische Perspektive“ hier kaum zu einer einheitlichen Forschungsperspektive führt; die im Vorwort aufgeworfene Frage nach der „Praxeologie“ als geeignetem Forschungszugang kann daher nur mit skeptischem Vorbehalt bejaht werden. Wichtig erscheint mir diesbezüglich Wiesers Unterscheidung von individuellen und kollektiven Perspektiven ; jeder Wissenschaftler, jeder Lehrende ist doch immer auch und vor allem Individuum, auch wenn er – oft vielleicht sogar nicht nur unreflektiert, sondern auch unbemerkt – von seiner universitären und wissenschaftlichen Umgebung geprägt ist. Dies zeigt sich insbesondere auch in den Beiträgen, die im Kontext des vorliegenden Bands in erster Linie individuelle Forschungsperspektiven bleiben. Nicht die Disziplinen führen hier einen Dialog, sondern einzelne, sehr unterschiedliche Vertreter ihres in sich sehr heterogenen Fachs finden sich unter einem Dach zusammen und kommen – zumindest in den konkreten Tagungsdiskussionen – miteinander ins Gespräch. Der Sammelband kann dieses Gespräch kaum abbilden.

Auch mit den genannten Einschränkungen ist der Band als ein erster Schritt in eine wichtige und richtige Richtung zu würdigen. Die angestoßene programmatische Diskussion sollte weitergeführt werden, und dabei sollten immer mehr Vertreter ihrer Disziplinen dafür interessiert und daran beteiligt werden. Darüber hinaus ist der Band jederzeit aufgrund der Qualität seiner Einzelbeiträge – einschließlich Einführungen und Reflexion – sehr lesenswert.

Titelbild

Marie Lessing-Sattari / Maike Löhden / Almuth Meissner / Dorothee Wieser (Hg.): Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
337 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783631653517

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch