Pünktchen ging nach Tel Aviv

Barbara Yelin erzählt in ihrer Graphic Novel „Vor allem eins: Dir selbst sei treu. Die Schauspielerin Channa Maron“ vom Leben des jüdischen Stars

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Man müsste erkennen, dass Terror in gewisser Weise auch ein Hilferuf ist“, sagte sie einmal. Das ist nirgendwo eine beliebte Meinung, schon gar nicht in Israel, das seit so vielen Jahren unter dem Terror leidet. Aber Channa Maron hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht: Aufgewachsen in Deutschland, floh sie mit ihrer Mutter vor den Nazis nach Paris, bis ihr Vater sie 1935 nach Tel Aviv holen konnte, jener Stadt, die 1909 von Juden gegründet worden war. Dabei sagte sie: „Was Juden waren, wusste ich damals gar nicht ganz genau.“

Schon als Kind war Hanna Meierzak ein kleiner Star auf der Bühne, und im Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang spricht sie die eindringlichen Eingangsworte, den makabren Abzählreim der Kinder: „Warte, warte nur ein Weilchen…“, der Thema und Atmosphäre des Films prägnant auf den Punkt bringt. Für Max Reinhardt stand sie auf der Bühne, und Erich Kästner war von ihr so begeistert, dass sie in der Inszenierung von Pünktchen und Anton am Deutschen Theater die Rolle des „Pünktchens“ übernahm.

Auch in Palästina blieb sie der Bühne treu, dann meldete sie sich zur englischen Armee, um gegen die Deutschen zu kämpfen, kam zur Jüdischen Brigade und trat vor verwundeten Soldaten auf, später vor Überlebenden der Shoah: Der Anblick der halb verhungerten und verstörten Gestalten war ein Erkenntnisschock für sie. Plötzlich bekam das Lied, das sie sang, einen neuen Sinn: „Alle Wege führen nach Rom“, heißt es dort: „aber seit kurzem hab ich so großes Heimweh nach dem Klang von Kindern, nach den Glocken der Herde, nach dem Duft des Obstgartens“, und es schließt mit der Verheißung „alle Wege führen nach Eretz Israel, wir werden uns dort treffen, in Eretz Israel“. Und das sang sie jetzt für Menschen, die den Konzentrationslagern entkommen waren.

Nach der Gründung Israels wurde Maron Mitglied des Cameri-Theaters und blieb dies über fünfzig Jahre lang. Hier kam das erste neue Stück auf Hebräisch heraus, geschrieben vom Übersetzer und Dramatiker Nathan Altermann, der ihr den Künstlernamen Maron, „Wolke“, vorschlug. Sie wurde ein Star, aber einmal, als er für sie in einem Stück extra eine Hauptrolle hineingeschrieben hatte, weigerte sie sich: „Ich habe genug Rollen und außerdem zwei kleine Kinder.“ Aber: „Weißt du was, Nathan, schreib mir ein Lied in dein Stück, dann spiele ich die Rolle.“ Sie wusste genau, dass er, der ernste Lyriker, das nicht konnte. Doch am nächsten Tag war das Lied fertig, und sie musste ihr Wort halten.

Am 10. Februar 1970 erlebte sie die größte Katastrophe ihres Lebens. Sie war auf dem Weg nach London, um dort für eine Rolle vorzusprechen. Als sie in München umsteigen musste, wurde sie Opfer eines Terroranschlags der palästinensischen Action Organization for the Liberation of Palestine (AOLP). Sie verlor ein Bein und versank in eine tiefe Depression. Lange brauchte sie, bis sie wieder auftrat. Ein großer Monolog der „Maria Stuart“, zu dem sie sich von Uri Ofer, dem Geschäftsführer des Cameri-Theaters hatte überreden lassen, riss sie selbst so sehr mit, dass sie auf der Bühne sogar aufstand, zum ersten Mal nach dem Anschlag.

Jetzt übernahm sie wieder Rollen, engagierte sich auch politisch. Wollte Frieden mit den Palästinensern, organisierte Kongresse, wo sie erlebte, wie tief die Gräben zwischen beiden Seiten sind. Wie gut und hilfreich es ist, wenn man sich kennenlernt. Sie flog in die USA, als Arafat und Rabin den Friedensvertrag unterzeichneten. Ein „Groß-Israel“ hielt sie für falsch, „die Besetzung Palästinas wird unser Untergang sein“, sagte sie, und die Ermordung Rabins war für sie eine Katastrophe.

Barbara Yelin erzählt die Geschichte dieser außergewöhnlichen Frau und populärsten Schauspielerin Israels, die in Deutschland kaum bekannt ist, mit ihren eigenen Mitteln: als Graphic Novel. Nicht als allwissende Erzählern, sie lässt in kurzen Kapiteln andere Menschen sprechen: zu Beginn Channa Maron selbst, die von ihrer Kindheit in Berlin erzählt, wie sie Erich Kästner durch ihren rotzfrechen Auftritt beeindruckte. Von ihrer Zeit in Paris erzählt ihr Archivar Dor Wertheimer, als sie betteln ging und ihr Schauspieltalent ihr beim Erfinden von Geschichten und beim mitleidheischenden Weinen half. Ihr Sohn Ammon erinnert sich an ihre Erzählungen aus Tel Aviv, wie sie mit ihren großstädtischen Lackschühchen und im Kleidchen bei den Kindern auf der staubigen Straße zuerst nicht gut ankam. Ihre Tochter Ofra, der Sänger und Musiker Nathan Stor, Uri Ofer, ihre Enkelin Alma, die deutsche Dokumentarfilmerin Anna Linsel: Viele Perspektiven tun sich so auf und viele Facetten des Menschen Channa Maron werden aufgezeigt.

Yelins Aquarellbilder greifen Zitate aus den Interviews auf und verlebendigen das Berichtete mit farbigen Details. Wie in einem inneren Film werden die Erinnerungen zu Bildern die eine eigene Geschichte erzählen. In düsteres Blau getaucht sind Anschlag und Krankenhausaufenthalt, in schnellen Schnitten zeigt sie die Shoah-Überlebenden, mit viel Dramatik bringt sie Maron als Medea oder Maria Stuart auf die Bühne. Manchmal leitet Yelin mit ihren Bildern von einer Episode zur nächsten, erzählt vom kalten Regen in Paris und danach vom heißen Staub in Tel Aviv, den Channa Marons penible deutsch-jüdische Mutter gar nicht mag.

Der Band begleitet eine Ausstellung des Goethe-Instituts Israel über Channa Maron. Es war die Entscheidung der Kuratoren, ihr Leben und Schaffen möglichst lebendig darzustellen – schwierig bei einer Schauspielerin, deren Theaterkunst vergänglich ist. Ohne Zeitzeugen, ohne Aufzeichnungen erzählen so vor allem die kunstvollen Bilder von Barbara Yelin und David Polonsky, dessen großformatige Einzelbilder ihrer größten Rollen die Graphic Novel wunderbar ergänzen, von einer engagierten Frau.

Titelbild

Barbara Yelin / David Polonsky: Vor allem eins: Dir selbst sei treu. Die Schauspielerin Channa Maron.
Reprodukt Verlag, Berlin 2016.
81 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783956401022

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch