Von großen und kleinen Andersartigkeiten

Alice Hoffmann liefert mit „Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell“ ein Buch, über das man sich streiten kann

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell hat bereits ein beachtliches Medienecho erhalten. Der „Tagesspiegel“ spricht von einem „Roman zum Träumen“. Die „Gießener Allgemeine“ spricht von einem Buch was „unseren Blick für die kleinen Schönheiten und Geheimnisse der Welt öffnet“ und zahlreiche Rezensenten auf Amazon oder anderen Plattformen äußern sich durchweg positiv über das Buch. Aber wie kann das sein? Was ist so besonders an Nachtvogel?

Zunächst muss festgehalten werden, dass es sich bei dem Buch der bekannten amerikanischen Autorin Alice Hoffman um ein Kinderbuch handelt. Dieses Genre zeichnet sich zumeist über seine leicht zugängliche Sprache und aus Perspektive der Erwachsenen oft ,naiven‘ Charaktere aus. Die Geschichten sind nicht unbedingt komplex, die Botschaften deutlich. Auch in diesem Fall ist die Botschaft auf der ersten Ebene sehr klar: Du musst keine Angst haben anders zu sein! So erscheint es zumindest dem versierten Leser, der meint in jeder Geschichte für Kinder eine solche Botschaft ausmachen zu müssen. Vielleicht wäre es deshalb viel sinnvoller, das anvisierte Lesepublikum zu fragen, wie es das Buch findet – aber hier nun eine Einschätzung aus Erwachsenenperspektive.

Das Setting der Geschichte ist der beschauliche Ort Sidwell. Dieser wird farbenfroh beschrieben. Obstgärten, dörfliche Umgebung, eine kleine Schule. Wer mit einschlägigen Filmen, die in amerikanischen Kleinstädten spielen, vertraut ist, hat sofort die entsprechenden Bilder im Kopf. Hoffmann vermag eine Atmosphäre zu kreieren, die ihre Protagonisten benötigen, um sich zu entwickeln. Genau so viel Raum lässt sie ihnen – aber keinen Millimeter mehr. Denn in der Stadt geht etwas Seltsames vor: Immer wieder wird ein Monster gesichtet. Es sieht aus wie ein Mensch, besitzt aber Flügel und niemand weiß, was es damit auf sich hat – bis auf Twig.

Twig – nicht zu verwechseln mit dem genialen Twig aus Paul Stewarts Klippenland-Chroniken – wohnt mit ihrer Mutter abseits der Stadt. Aber die beiden sind nicht allein in ihrem großen Haus. Auf dem Dachboden wohnt der Bruder von Twig – und der hat Flügel. Weil er anders ist, muss er ein Geheimnis bleiben. Twig versucht ebenfalls ein Geheimnis zu bleiben. Sie wird zur Beobachterin und sieht allerlei Dinge in Sidwell. So wird sie auf eine Serie von Diebstählen aufmerksam und entdeckt als erste die Graffiti, die davor warnen, den Wald zu betreten. Unterschrieben sind sie vom Monster. Twig macht sich daran, den Fall zu lösen.

Begleitet wird sie dabei von den zwei Nachbarstöchtern, die in das alte Haus nebenan eingezogen sind. Aus Angst, ihren Bruder zu gefährden und auch, weil das Haus früher einer Hexe gehörte, die ihre Familie verfluchte, wehrt Twig sich zunächst gegen die Freundschaft der Mädchen. Aber dann siegt doch die Angst vor der Einsamkeit beziehungsweise die Freundschaft. Dazu kommt noch, das die ältere der beiden Schwestern sich in den Bruder verliebt. Gemeinsam machen sich die Vier daran, sowohl den Fluch zu brechen, als auch das Rätsel um die Monster-Graffiti zu lösen. Hierfür muss sich allerdings die dramatische Geschichte wiederholen, die Twigs Familie mit der Familie der Hexe verbindet. Doch das Abenteuer endet versöhnlich: Der vormals Ausgestoßene wird zum Helden und die junge Liebe erblüht. Die „Monsterkritiker“ werden zu dessen Fans und der Hintergrund der Monster-Graffiti – ein Wald soll nicht gerodet werden – klärt sich auch auf. Das Gute siegt auf ganzer Linie. Und das fast ohne Gegenwehr.

All die hier skizzierten Handlungselemente werden in angenehmer, flüssiger Sprache vorgetragen. Es gibt keinerlei Reibungspunkte; Erwachsene lesen die Geschichte entspannt an einem Nachmittag im Liegestuhl und schmunzeln über die Bilder, die entstehen. Sicherlich freut sich manch einer auch über das schöne Ende – letzteres lässt sich aber auch aufgrund seiner Gradlinigkeit kritisieren.

Alice Hoffmanns Buch steht stellvertretend für eine Art von Kinderbuch, wie sie nur Erwachsene schreiben können. Zwar ist die Geschichte grundlegend interessant und auch die fantastischen Elemente rund um Magie, Flüche und Verbrechen werden intelligent eingarbeitet, die Geschichte selbst bleibt aber sehr brav, die Sprache ist weich und distanziert. Es gibt keine Brüche und die Charaktere sind durchweg eindimensional. Und das Ende ist ein regelrechtes „Happy End“, es bleibt kein Raum, um das Verhalten der einzelnen Personen zu problematisieren. Warum hatten die Menschen überhaupt Angst vor dem Monster? Es hat ihnen doch nichts getan? Warum soll der Wald gerodet werden? Wieso wird Twig von den anderen in der Schule ignoriert? Wie gehe ich selbst mit anderen Kindern um? Was bedeutet es eigentlich, anders zu sein?

All diese Fragen könnte man mit Kindern besprechen, würde das Buch nicht bereits vorgefertigte Antworten liefern. Literatur – gerade die für Kinder – sollte bewegen und zum Nachdenken anregen. Der Nachtvogel unterhält zwar sicherlich Erwachsene – diese können sich dann hin zum locus amoenus Sidwell träumen – es könnte Kinder aber möglicherweise sogar langweilen – diese haben nämlich oftmals ein feineres Gespür für die Realität als Erwachsene. Da kommen dann Fragen auf, ob das „in echt“ überhaupt geht, mit Flügeln in die Schule zu kommen. Oder warum denn das Naturschutzgebiet um die Ecke bebaut wird, obwohl da auch Eulen wohnen und man doch einfach sagen könnte, dass es so schön sei. Kinder stoßen sich an Literatur und fragen dann nach: Deshalb sind sie wahrscheinlich auch die besseren Leser für ein solches Buch und sollten es bewerten. Hier also die abschließende Bemerkung aus der Runde: Das Buch war zwar spannend aber „total anders“ als „in echt“.

Um es an dieser Stelle zu verdeutlichen: Es ist wichtig, dass wir mit Kindern über das sprechen, was sie lesen oder was wir zusammen lesen. Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell ist ein Buch, über das man sehr gut mit Kindern sprechen kann – man muss aber zunächst einen Zugang finden. Diesen bietet das Buch nicht von allein. Zwar ist klar, dass es darum geht, dass es super ist, anders zu sein. Dass es in der Realität aber nicht immer so glimpflich ausgeht wie in Sidwell, sollte den Kindern auch vermittelt werden.

Titelbild

Alice Hoffmann: Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sibylle Schmidt.
Fischer Sauerländer, Aarau
207 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3737353875
ISBN-13: 9783737353878

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