Die Entdeckung des Subjekts

Translationswissenschaft untersucht die Rolle des Übersetzers

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Andreas F. Kelletat und Aleksey Tashinskiy herausgegebene Band geht auf die Tagung „Literaturübersetzer als Entdecker“ zurück, die im Juni 2013 am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz in Germersheim stattfand. Diese war eine der Vorarbeiten zur Vorbereitung und Konzeption des Online- Übersetzerlexikons, das in Germersheim initiiert wurde und angesichts der Fülle des Forschungsmaterials als Langzeitprojekt angelegt ist.

Der Sammelband vereint 24 Beiträge, die verschiedene Facetten des Begriffs „Entdeckung“ beleuchten, um ihn als eines der Relevanzkriterien für das Lexikon zu prüfen. Auch wenn die Beiträge nicht explizit in thematische Kapitel untergliedert sind, lassen sich drei zentrale Aspekte ausmachen: (1) Überlegungen zur Konzeption des Übersetzerlexikons, (2) Person des Übersetzers und (3) Fallbeispiele. Während der Beitrag der Herausgeber auf den Forschungsstand eingeht und das Konzept des Germersheimer Übersetzerlexikons vorstellt, präsentiert Lars Kleberg ein ähnliches Projekt aus Schweden und ordnet es in den Kontext der schwedischen Literaturgeschichtsschreibung ein. Dilek Dizdar widmet sich dezidiert dem Entdeckungsbegriff und exponiert die Rolle der Translation in literarischen Systemen als einen der Ansatzpunkte für entdeckerisches translatorisches Handeln. Zu Recht vermerkt sie, dass im Entdeckungsbegriff Überraschungseffekte und Momente des Unerwarteten und Unverhofften inkludiert sind und illustriert dies sowie die Komplexität der Bestimmung einer Entdeckung am Beispiel der Rezeption von Nazim Hikmet und Ahmed Hamdi Tanpinar in Deutschland. Susanne Hagemann präsentiert Iain Galbraith, den Herausgeber und Vermittler der schottischen Lyrik ins Deutsche, als Beispiel für die notwendige Erweiterung der Begriffe „Übersetzer“ und „Entdecker“, um so nicht nur übersetzerische, sondern translatorische Leistungen im weiten Sinne zu würdigen.

Unter dem zweiten Aspekt, Person des Übersetzers, können die nächsten sechs Beiträge subsummiert werden. Renata Makarska beruft sich auf die von Anthony Pym eingeleitete „Humanisierung der Translatorik“ und plädiert in ihrem Beitrag für eine neue Übersetzerbiographie, „die sowohl für die Translatologie als auch für die Kulturwissenschaft anschlussfähig ist und dem (möglichen) Vorwurf des ‚Biographismus‘ standhält“. Im Anschluss an Renata Makarska entwickelt Aleksey Tashinskiy ausgehend von den vier einander überkreuzenden Dichotomien Autor/Übersetzer, Beschreibung/Programm, Struktur/soziale Beziehung, Subjekt/Akteur seine Überlegungen zur Stimme des translatorischen Subjekts. Deutlich wird dabei die Tendenz, die Unsichtbarkeit des Übersetzers zu überwinden, ihm die Präsenz im übersetzten Buch einzuräumen und so den Leser für die Stimme des translatorischen Subjekts zu sensibilisieren. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Jürgen Joachimsthaler, wenn er jede übersetzerische Entscheidung als „eine ästhetische, semantische, kulturelle und politische Positionierung des Translats wie des Übersetzers an einem konkreten Punkt im Spannungsfeld zwischen beiden Kulturen“ definiert. Außerdem verweist er auf die herausragende Bedeutung der Übersetzer, wenn diese aufgrund ihrer sprachlichen Innovationskraft sprachbildend die deutsche Literatursprache geprägt haben. Dass der Übersetzer nicht nur mit dem Text arbeitet, sondern im literarischen System an verschiedenen Schnittstellen mitwirkt, veranschaulichen die Bestände im Deutschen Literaturarchiv Marbach (der Beitrag von Ulrich von Bülow) und das Karl Dedecius Archiv an der Europa-Universität Viadrina (Przemysław Chojnowski). 

Weitere Beiträge können als Fallstudien charakterisiert werden, denn sie liefern konkrete Beispiele für Übersetzung als Entdeckung und zwar in einer guten Mischung sowohl geographisch als auch chronologisch. Angesichts dieser Vielfalt versuche ich im Folgenden eine thematisch geordnete Besprechung der Beiträge, um die darin beleuchteten Aspekte des Entdecker-Begriffs zur Geltung zu bringen sowie einige Tendenzen im Umgang mit dem Entdeckten zusammenzufassen. Anhand der zwei ersten Texte, die Übersetzungen aus dem asiatischen Sprachraum vorstellen, lässt sich beispielsweise der unterschiedliche Umgang mit dem Entdeckten, d.h. dem Fremden und Exotischen, veranschaulichen. Während bei der Übersetzung chinesischer Romane ins Deutsche das Fremde unterschlagen und aus dem deutschen Text verbannt wird, scheinen die Übersetzungen der europäischen Literatur ins Japanische die Modernisierung und Verwestlichung in Japan vorangetrieben zu haben. Ulrich Kautz veranschaulicht dies u.a. am Beispiel der deutschen Übersetzung chinesischer Romane, in denen das exotische Gastronomische durch dem deutschen Leser vertraute heimische Gerichte ersetzt wurde oder ganze Passagen gestrichen bzw. gekürzt wurden. Eine konträre Position präsentiert Teruaki Takahashi mit Übersetzungen Ōgais aus westeuropäischen Sprachen ins Japanische, die zur Verwestlichung der japanischen Mentalität beitrugen, wobei die Einsicht der Überlegenheit der westlichen Technik ausschlaggebend für die Aufnahme des Fremden und schließlich die kulturelle Assimilation war. Henning Klöter widmet sich dem Vergleich zweier Übersetzer aus dem Chinesischen ins Deutsche, Richard Wilhelm und Franz Kuhn, während Andreas Schirmer die koreanische Übersetzerin Park Chan Soon als Schriftstellerin präsentiert, die eine Filmübersetzerin als Hauptfigur in ihrer Erzählung „Das Rad beim Jackknife“ installiert. Beide Beiträge verweisen auf neue Facetten des Entdecker-Begriffs, der jedoch immer weiter aufgefasst wird, so dass seine klare Bestimmung für das Übersetzerlexikon unabdingbar zu sein scheint, sollte eine vergleichbare und einheitliche Präsentation der Übersetzerinnen und Übersetzer angestrebt sein. Dieses Urteil bestätigen auch die Beiträge von Hans Peter Neureuter zu August Wilhelm Schlegel als Übersetzer, von Josefine Kitzbichler, die die Brüder Stolberg als Übersetzer griechischer Tragödien vorstellt, und von Jost Eickmeyer, der Übersetzungen lateinischer Dichtung der frühen Neuzeit untersucht. Anhand dieser Beiträge werden darüber hinaus verschiedene Dynamiken in der Übersetzung sichtbar, wie beispielsweise Movens von der wortgetreuen zur sinngemäßen Übersetzung, von der Verankerung in der Entstehungszeit zur Aktualisierung und Modernisierung, sowie der Neukontextualisierung, Neudeutung und Transformation des Translats. Dies alles manifestiert sich sowohl in der sprachlichen Gestaltung der Texte als auch im Umgang mit Inhalt und Form. Neben der sprachbildenden und epochenprägenden Funktion der Neuübersetzungen wird ihre Bedeutung für die Tragweite des Entdecker-Begriffs deutlich.

Von der langen Liste der angeführten Beispiele seien noch K. L. Ammer als Übersetzer von Rimbaud und Villon ins Deutsche und Hermann Buddensiegs Übersetzungen litauischer Klassiker sowie die Übersetzung lateinamerikanischer Lyrik in der DDR erwähnt. Die Vielfalt der Fallstudien ist eine der Stärken dieses Bandes, denn gerade die Gegenüberstellung der Übersetzungen aus großen und „kleinen“ Literaturen verdeutlicht sehr viele Prozesse und Dynamiken der Literatur- und Kulturvermittlung. Dabei zeigen die Beiträge des Bandes, dass der Begriff „Entdeckung“ viel weiter aufgefasst werden sollte als nach der ursprünglichen Definition: „innovatives translatorisches Handeln im weitesten Sinne […], die Erstpräsentation eines fremden Autors, eines Werkes, einer bisher in der deutschen Literatur nicht vertretenen Gattung, eines poetischen Verfahrens oder auch einer bisher gänzlich unbeachtet gebliebenen („kleinen“) Literatur.“ Ferner wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Person des Übersetzers das literarische System sehr plastisch vorführt und veranschaulicht, dass Übersetzer Multitalente sind, die mit Begeisterung und Engagement für das Andere und Fremde das Eigene erweitern und bereichern.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andreas F. Kelletat / Aleksey Tashinskiy (Hg.): Übersetzer als Entdecker. Ihr Leben und Werk als Gegenstand translationswissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Forschung.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2014.
366 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783732900602

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