Spiel und Wirklichkeit

Varujan Vosganians Erzählung „Das Spiel der hundert Blätter“ über das Leben von vier Freunden in Rumänien

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der rumänische Schriftsteller und Politiker Varujan Vosganian (*1958) hat vor ein paar Jahren mit einem großen Epos über die armenische Minderheit in Rumänien von sich reden gemacht. Mit seinem Roman Das Buch des Flüsterns hatte er eine literarische Chronik armenischer Präsenz in Rumänien vorgelegt. Auch manch rumänischem Leser hat Vosganian damit ein wenig die Augen geöffnet – denn der armenische Anteil an der eigenen Geschichte ist selbst in Rumänien nicht allgemein bekannt. In seinem zweiten Werk, das jetzt auf Deutsch vorliegt, hat sich Vosganian der jüngeren Geschichte Rumäniens angenommen. In zeitlicher Hinsicht ist der Blick enger geworden, die Erzählung Das Spiel der hundert Blätter umfasst ungefähr die letzten fünfzig Jahre. Dafür ist der thematische Horizont nun breiter gesteckt, denn Vosganian widmet sich der rumänischen Gesellschaft als ganzer. Der Autor hat vier Männer ins Zentrum seiner Erzählung gestellt, anhand derer Biografien sich ein Großteil der neusten rumänischen Geschichte quasi kristallisiert.

Tili, Jenică, Maca und Luca kennen sich seit der gemeinsamen Schulzeit im kommunistischen Rumänien. Sie sind in einer Kleinstadt aufgewachsen, die sich unschwer als Focșani identifizieren lässt, wo auch der Autor seine Kindheit verbracht hat. Die vier haben später gemeinsam studiert, auch wenn sie nicht unbedingt gleich gut begabt waren. Nach dem Abschluss arbeiteten sie in einer Maschinenfabrik – in einer zukunftsträchtigen Branche, wie sie damals glaubten. Luca hat sich dann allerdings für die Flucht in den Westen entschieden – seit seinem Verschwinden an der Grenze haben die anderen drei nichts mehr von ihm gehört. Die Revolution von 1989 stellte das Leben der in Rumänien verbliebenen Freunde auf den Kopf: Der Kommunismus wurde abgewickelt, die Maschinenfabrik geschlossen.

An die neue Zeit haben Tili, Jenică und Maca nicht mehr wirklich Anschluss gefunden. Die drei sind eher philosophisch veranlagt: Sie werden von Vosganian als nachdenklich-distanzierte Skeptiker gezeichnet. Für den Kapitalismus sind sie untauglich. Sie bleiben zwar nicht untätig, aber ihre Beschäftigungen scheinen nicht gerade dazu geeignet, um damit den Lebensunterhalt zu verdienen: Tili erfindet im Auftrag eines Puppenmachers Namen für dessen neuste Kreationen. Jenică sollte eigentlich Lose an den Mann und an die Frau bringen, hält aber potentielle Kunden letztendlich doch lieber davon ab, ihr Geld für wahrscheinliche Nieten auszugeben. Und Maca fährt mit seinem Motorrad durch die Gegend, provoziert Mitmenschen und sammelt deren Reaktionen, indem er ihre Flüche notiert. Im unvermittelten sprachlichen Ausbrechen der Menschen aus ihrem Alltag scheint Maca so etwas wie Authentizität zu erkennen.

Als sie noch zur Schule gingen, spielten die vier Freunde das Spiel der hundert Blätter: In einer Kastanienallee setzen sie ihre Füße auf die heruntergefallenen Blätter und schritten auf ihnen voran. Das Ziel bestand darin, möglichst weit zu kommen. Zu den Regeln gehörte, dass man vor Spielbeginn hundert weitere Blätter in den Schulranzen stopfen durfte – mit ihrer Hilfe ließen sich allfällige Lücken im Parcours überbrücken. Nun sind viele Jahre ins Land gegangen. Auch der politische Umsturz liegt mittlerweile schon länger zurück. Wieder ist Herbst, und Tili, Jenică und Maca treffen sich als erwachsene Männer noch einmal zu diesem Spiel. Sie ziehen die Bilanz ihres misslungenen Lebens, streifen durch die verfallene Maschinenfabrik, sinnen über Lucas Schicksal nach. Inzwischen wissen sie, das Luca beim Versuch, die Donau in Richtung Jugoslawien zu überqueren, erschossen worden ist. Die Staatsicherheit Securitate hatte zuvor offenbar von seiner Fluchtabsicht Wind bekommen.

Das Spiel der hundert Blätter ist das Leitmotiv, das Vosganians Erzählung stützt. In ihm scheint vieles verdichtet: Es geht zunächst um den Wettbewerb zwischen den Buben, um ihre Fantasie, aber auch um die Träume und Erwartungen der heranwachsenden Schüler. Der Pfad aus Blättern steht im Weiteren sinnbildlich für den Lebensweg: Manches ist vorgegeben, anderes müssen die Menschen selbst beisteuern. Die Ressourcen freilich sind begrenzt, und wann sie am besten eingesetzt sind, weiß man nicht von vornherein. Stets damit einher geht die Frage, was denn nun der Beitrag des Schicksals am eigenen Leben ist und wie groß der Anteil des freien Willens ausfällt.

Die Blätter verweisen aber auch auf die Fiktion, auf das Imaginierte. Das ergibt sich nicht allein aus der Semantik, die das Kastanienblatt mit dem Blatt Papier verbindet. Wenn Tili Puppen mit Namen versieht, so verleiht er ihnen zugleich ein Gesicht und eine Geschichte. Dies kommt geradezu einem schöpferischen Akt gleich: Benennen bedeutet erschaffen, denn „am Anfang war das Wort“. Ganz ähnlich werden Macas gesammelte Flüche zu machtvollen Lebenszeichen ihrer Urheber: Sie insistieren auf der Autonomie der Menschen, die versuchen, dem Gefühl des Ausgeliefertseins etwas entgegenzusetzen – und sei es nur der Ausbruch ihres Innersten in Form eines Kraftausdrucks. Für die drei Freunde ist so etwas eminent wichtig, denn sie kämpfen selbst gegen die eigene Bedeutungslosigkeit in einer Zeit an, die nicht auf sie gewartet hat.

Das Spiel der hundert Blätter liest sich nicht immer leicht. Der Stil ist oft hermetisch und schwer verständlich. Die Sprache ist dabei allerdings weniger surreal als magisch-poetisch. Die Erzählung erinnert darin bisweilen an Bruno Schulz’ Die Zimtläden, ohne freilich an deren Qualität heranzukommen. Es entsteht der Eindruck, als imitiere der Stil die Sinnsuche durch die drei Freunde: Diese Suche setzt immer wieder an, scheint sich auf dem richtigen Weg zu befinden, um dann doch wieder in einer Sackgasse zu enden oder sonstwo zu versanden. Mitunter finden die drei zwar eine behelfsmäßige Antwort für den Moment, erfahren eine Art temporärer Erleuchtung. Dann verdichtet sich die Sprache jeweils zu gnomischen Formeln und wirkt auf einmal prägnanter und fassbarer. Doch auch solche Aphorismen und Lebensweisheiten halten nicht lange stand: Sie erweisen sich als provisorische Zurechtlegungen für den Augenblick und verhallen letztlich im Leeren.

Diese sprachliche Charakteristik der Erzählung ist sicher mitverantwortlich dafür, dass sie von einer lähmenden Stimmung und von Pessimismus geprägt ist. Es scheint, aus der Geschichte gäbe es nichts zu lernen. Müsste man für diesen Stil eine Bezeichnung finden, so böte sich vielleicht ein Begriff wie „postkommunistischer Realismus“ an. Denn trotz allen nicht realistisch anmutenden Elementen hält Vosganian gleichwohl daran fest, dass die von ihm porträtierte Welt eben in der Wirklichkeit gründet.

Die drei Freunde wagen dann gleichwohl noch einmal den Ausbruch: Als Tili Zugang zu den Akten der Staatsicherheit erhält, erfahren sie, dass Luca vor seiner Flucht überwacht worden war. Man hatte anscheinend bereits Verdacht geschöpft. Die entscheidenden Informationen hatte ganz offensichtlich der Revierpolizist an die Securitate geliefert. Hier erhält die Erzählung plötzlich – und gerade rechtzeitig – noch einmal eine unerwartete Dynamik, die beinahe die Spannung eines Kriminalromans erreicht: Tili, Jenică und Maca beschließen nämlich, den betreffenden Polizisten ausfindig zu machen und sich an ihm zu rächen. Sie wollen sich mit dem Schicksal nicht abfinden, raffen sich auf und werden zu Handelnden. Die Freunde werfen also noch einmal ihre hundert Blätter in die Waagschale des Lebens…

Nicht ganz nachzuvollziehen ist, warum das Buch in der deutschen Übersetzung als Roman bezeichnet wird. Im rumänischen Original ist von einer „Erzählung“ (povestire) die Rede. Diese Gattungsbezeichnung entspricht dem Charakter des Texts im Grunde genommen viel besser. Sie bewahrt Das Spiel der hundert Blätter auch ein wenig davor, dass man dieses Buch allzu sehr mit dem großen Roman und Vorgänger Das Buch des Flüsterns vergleichen möchte. Denn solch einem Vergleich wird die Erzählung nicht ganz standhalten können; die Unterschiede sind denn doch beträchtlich. Das Spiel der hundert Blätter holt sowohl in zeitlicher wie auch im Hinblick auf das Thema deutlich weniger weit aus. Die Personen bewegen sich in einem kammerspielartigen Rahmen. Die Komposition verharrt im Vagen. Auch bleibt in dieser Erzählung vieles relativ offen; manches erweckt mitunter den Eindruck, es sei unfertig. Das freilich mag wiederum mit der schwebenden Existenz der drei Männer zu tun haben, deren Schicksal sich nicht zu einer Biografie fügen will.

Worum geht es in Das Spiel der hundert Blätter also letztendlich? Es ist dies die Geschichte einer Generation, die zwischen den Epochen zerrieben worden ist, die den Anschluss an die neue Zeit nicht mehr geschafft, die letztlich ihren Weg zwischen Anpassung und Freiheit nicht gefunden hat. Die Erzählung handelt aber auch vom Zusammenspiel von Wahrheit und Dichtung, von Wirklichkeit und Spiel, von Schicksal und freiem Willen. Wenn ein Leben gelingen soll, müsste es versuchen, zwischen den beiden Polen die Balance zu finden. Kann man aber ein Leben nachträglich noch korrigieren? Tili, Jenică und Maca schicken sich an, darauf eine Antwort zu finden.

Titelbild

Varujan Vosganian: Das Spiel der hundert Blätter. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058002

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch