Rechtsidealismus und/oder Interessenpolitik?

Dieter Gosewinkel rekonstruiert die neuere Geschichte Europas am Leitfaden des Staatsbürgerschaftsrechts

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Flüchtlingswelle hat die Frage „Wer ist Deutscher?“ ins Zentrum politischer Kontroversen gerückt. „Man ist Deutscher, wenn man […] Teil unserer Kultur, unserer Tradition [ist]“ – so erklärte Alexander Gauland, stellvertretender Vorsitzender der AfD, jüngst in einer Fernsehdebatte. Justizminister Heiko Maas konterte: „Deutscher ist derjenige, der einen deutschen Pass hat und das Staatsbürgerschaftsrecht regelt, wann man einen Pass bekommt“. Hier kontrastieren eine ausgrenzende ethnisch-kulturalistische und eine offen-integrative Konzeption von Staatsbürgerschaft. Flüchtlinge – so die eine Seite – „belasten“ und „führen zu Überfremdung“. Nein, so die andere Seite, sie „bereichern“ und „stärken […] unsere Wirtschaft“, sie aufzunehmen erlaubt, „eine humanitäre Verpflichtung“ zu erfüllen und zugleich demographische Probleme zu lösen.

Um solch aktuelle und brisante Fragen geht es in Dieter Gosewinkels bahnbrechender Untersuchung der Entwicklung des Staatsbürgerrechts im 20. und 21. Jahrhundert in sechs europäischen Staaten (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Polen, Tschechoslowakei, Russland). Datenbasis sind Verfassungs- und Gesetzestexte, Akten von Verwaltungsbehörden, Petitionen, Statistiken zur Bevölkerung, zu Migration und zur sozialen Entwicklung sowie wissenschaftliche Diskurse. Vom Erleben Betroffener wird nicht berichtet. Hier liefert Hannah Ahrendts kurzer Essay Wir Flüchtlinge eine gute Ergänzung. Sie benennt das politikwissenschaftlich zentrale Problem von Staatenlosigkeit, „dass wir als Juden keinerlei rechtlichen Status […] besitzen […], dass wir nichts als Juden sind […,] dem Schicksal bloßen Menschseins ausgesetzt“. Vor allem aber schildert sie auch subjektive Erfahrungen: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen sein zu können. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr […] den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle […]. Wir haben unsere Verwandten […] zurückgelassen, unsere besten Freunde sind […] umgebracht worden und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“

Gosewinkel wählt als Bezugspunkt Marshalls „Narrativ des Fortschritts“ von 1949, das von der zunehmenden Durchsetzung individueller Rechte (bürgerlicher im 18., politischer im 19. und sozialer im 20. Jahrhundert), von fortschreitender Gleichheit, Partizipation und Integration erzählt. Diesem ‚normativen Ideal von Staatsbürgerschaft‘ setzt er die detaillierte historische Analyse entgegen. Er wendet den Blick von den „Chancen der Inklusion zu den Risiken und Härten der Exklusion, von der ‚inneren‘ Seite der Ausübung von Rechten zur ‚äußeren‘ formalen Seite ihrer Zuteilung und Versagung“. Die Darstellung zeigt nicht einen Siegeszug von Ideen. Sie belegt vielmehr die starke Abhängigkeit rechtlicher Regelungen und Praktiken der Staatsangehörigkeit und der Staatsbürgerrechte von Machtkämpfen, Interessenkonflikten und Kontextbedingungen.

Ein Beispiel ist die relative Bedeutungslosigkeit der Idee von Nation für die Zuteilung von Staatsbürgerrechten. Verbreitet ist die Annahme, das ius soli stehe für republikanische Werte und verbürge eine inklusiv-integrierende Politik. Das Abstammungsprinzip hingegen beweise nationalistische Orientierungen und stehe für eine exkludierend-restriktive Haltung. Die historische Analyse zeichnet ein komplexeres Bild. Napoleon hatte für ein ausschließliches ius soli plädiert – er wollte möglichst viele Männer der Wehrpflicht unterwerfen. Kritiker verwarfen die automatische Einbürgerung als Rückkehr zum feudalen Territorialprinzip und betonten den Gedanken einer freiwilligen Zustimmung zur Staatsbürgerschaft. Auch sei Nation ihrem Wesen nach eine Familie, insofern sei das Recht auf das Abstammungsprinzip zu gründen. Dieses ‚moderne‘ Prinzip setzte sich durch. In Frankreich wurde es jedoch 1889 abgeschafft. Grund war die mangelnde Wehrgerechtigkeit: In Frankreich geborenen Ausländern und ihren Nachkommen blieb die Wehrpflicht erspart und es wurden viele Immigranten (allerdings aus sprachlich-kulturell verwandten lateinischen und katholischen Nationen) angeworben – die inländische Geburtenrate war gesunken, der Arbeitskräftebedarf im Zuge der Industrialisierung gestiegen. So wurde das Territorialprinzip wieder eingeführt und nun als demokratisches Ideal einer humanen assimilationsgeneigten Politik gedeutet. Faktisch aber ging es eher um utilitaristische Zwecke (Wehrgerechtigkeit, demographischer Rückstand) als um republikanische Ideale. Dies zeigt auch die weitere Entwicklung. Das Weltoffenheit signalisierende Territorialprinzip wurde zwar beibehalten, aber seine reale Substanz durch Gesetzgebung und Verwaltung ausgehöhlt. Um die Homogenität der Bevölkerung zu sichern, wurden Einbürgerungsbedingungen verschärft und der Rechtsstatus nicht-naturalisierter Ausländer gemindert. So etwa konnten Algerier europäischer Herkunft nach der staatlichen Trennung die französische Staatsangehörigkeit behalten, muslimische Algerier hingegen mussten sie beantragen und konnten wegen „nationaler Unwürdigkeit“ zurückgewiesen werden. Deutschland legte 1913 das Abstammungsprinzip fest. Ziel war die Abwehr von ‚fremden‘ (katholischen und slawisch sprechenden) Einwanderern aus dem Osten – der demographische Druck war gering. Die „geradezu idealtypische Konfrontation“ zwischen Frankreichs Territorialprinzip und Deutschlands Abstammungsprinzip verfestigte sich dann vor allem in den Auseinandersetzungen um Elsass-Lothringen. Beiden Seiten ging es um die jeweils überzeugendste Begründung für ihren Anspruch auf das Gebiet. Letztlich waren es politisch-demographische Zweckerwägungen, nicht gegensätzliche Nationsvorstellungen, die Frankreich zum Festhalten am ius soli, die deutsche Seite hingegen zur Bekräftigung des ius sanguinis veranlassten. Die strategisch-interessengeleitete Nutzbarkeit staatsbürgerlicher Prinzipien zeigt sich auch in der Politik des British Empires: Mit dem Argument der territorialen Herkunft konnte man britischen Bürgern, die im Mutterland geboren waren, privilegierten Zugang zu sozialen und politischen Staatsbürgerrechten eröffnen, Bürgern aus den Dominions hingegen verwehren – territoriale Unterschiede ließen sich zur Diskriminierung einsetzen.

Solch detaillierte Analysen bestätigen und relativieren zugleich die Feststellung des Historikers Rolf Peter Sieferle: „Der Nationalstaat ist nur nach innen universalistisch-egalitär, nach außen exklusiv“. Die Exklusivitätsthese bestätigt ein Blick auf die Kolonialgebiete. Staatsbürgerliche Rechte waren abgestuft und mittels Immigrationskontrollen und Ausländerrecht blieben sie dies auch noch im Verlauf der Dekolonisation. Die These der inneren Egalität ist deutlich zu relativieren: Frauen waren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vom Wahlrecht ausgeschlossen und besaßen als Verheiratete nicht einmal eine vom Ehemann unabhängige Staatsangehörigkeit. Erst recht wurden Juden in ihren staatsbürgerlichen Rechten eingeschränkt und im NS Regime gar ihrer Staatsangehörigkeit beraubt.

Die Gesamtentwicklung beschreibt Gosewinkel als Bogen: Mit dem 20. Jahrhundert setzte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine zunehmende Nationalisierung, verschärfend noch eine Ethnisierung, der Staatsbürgerschaft durch. Wirtschaftliche, politische, soziale Rechte wurden an die Staatsangehörigkeit gebunden und bestimmten Gruppen – etwa den Juden im NS besetzten Europa oder politisch unerwünschten Sowjetbürgern – ganz entzogen. Allmählich vollzog sich dann zunächst im westlichen Teil und ab 1989 in Europa insgesamt eine – auch durch internationale Menschenrechtskodifikationen beeinflusste – Denationalisierung von Individualrechten. So etwa erlaubt das EUGH Individualbeschwerden gegen nationale Rechtsprechung. Korrelat ist die Schwächung nationalstaatlicher Souveränität. Dies wirft Fragen auf: Welche politische Einheit vermag den Schutz und die Freiheit der Bürger wirksam zu garantieren? Hat die „die weitverbreitete Erwartung, die Integration Europas vollziehe sich […] durch das Recht“ Bestand? Gosewinkel antwortet „mit historisch begründeter Skepsis“. Schließlich zeigt sich die begrenzte Kraft von Ideen nicht zuletzt an der Diskrepanz zwischen universalistischer Menschenrechtsprogrammatik und restriktiven Praktiken ihrer Umsetzung (etwa bei den ostmitteleuropäischen Verfassungen). Und auch wenn die politische Einheit im künftigen Europa freier und offener sein mag als die Nationalstaaten, so muss sie doch die zentrale Funktion von Staatsbürgerschaft erfüllen: Sie muss über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entscheiden und ihre Mitglieder – notfalls gewaltsam – verteidigen.

Gosewinkel vermag eine unvorstellbare Fülle historischer Details und theoretisch relevanter Gesichtspunkte in einem analytisch stringenten Gedankengang zu bündeln. Am Leitfaden der Gewährung und Vorenthaltung von Staatsbürgerrechten gelingt ihm eine faszinierende Rekonstruktion der neueren Geschichte Europas. Insbesondere seine Beschreibung der Nachkriegsentwicklung mag für (vor allem ältere) deutsche LeserInnen eine aufklärerische Funktion erfüllen. Es war die Zeit der „Schaffung einer neuen Menschenrechtsordnung“, in der universelle Maßstäbe eine „rechtliche Kodifizierung“ erfuhren. Vom Geist dieser Verrechtlichung war insbesondere der westdeutsche Staat bestimmt, der seine Souveränität auf die Anerkennung internationaler Rechtsnomen und vertragliche Einbindungen stützte. Hingegen beharrten etwa Frankreich und Großbritannien stärker auf ihrer nationalstaatlichen Souveränität und beide nutzten – interessegeleitet – diskriminierende Praktiken gegenüber postkolonialen Immigranten. So entfaltete sich der „Rechtsidealismus der frühen Nachkriegszeit“ besonders deutlich in der BRD und prägte die 68er Generation, die gerade in dieser Phase ihre politische Sozialisation erfuhr. Ihr schien die Aufklärung unumkehrbar und die Durchsetzungskraft menschenrechtlicher Prinzipien unaufhaltbar. Gosewinkels Analysen erzwingen eine historische Situierung dieser Glaubensüberzeugungen und berauben sie somit ihres Absolutheitsanspruchs. Zu totaler Resignation angesichts der politischen Ereignisse in der gegenwärtigen ‚post-faktischen‘ Gesellschaft muss dies jedoch nicht führen. Auch wenn sich Ideen – etwa die Idee der Verbindlichkeit von Menschenrechten – nicht per se und nicht immer geradlinig durchsetzen, so sind sie doch – und auch das zeigt Gosewinkel – ein politisch bedeutsamer Einflussfaktor.

Insgesamt ist Gosewinkels Buch – trotz seiner einschüchternden Länge und Informationsdichte – außerordentlich gut lesbar und spannend. Es vermittelt ein vertieftes Verständnis der gegenwärtigen Problemlagen und der eigenen politischen Überzeugungen. Kurz: Die Lektüre verspricht Genuss und Gewinn.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
772 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297674

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Titelbild

Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
64 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783150193983

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