Die große Wut des Ludwig Dragomir

In Friedrich Anis neuem Roman „Nackter Mann, der brennt“ wird ein Opfer von Gewalt zum Täter

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Namen Ludwig Dragomir kommt 40 Jahre nach seinem Verschwinden ein Mann, der angefüllt ist mit Zorn und dem Verlangen nach Rache, in den 3.000-Seelen-Ort Heiligsheim in Deutschlands Süden zurück. Coelestin Geiger hat er einst geheißen. Bis er als 14-Jähriger sein Dorf über Nacht verließ, war er – wie viele andere auch – hilflos Männern ausgeliefert, die ihre Stellung als Honoratioren der kleinen Gemeinde, in der jeder alles vom anderen wusste, ausnutzten, um Kinder zu missbrauchen, ohne dafür mit Strafen rechnen zu müssen. Nun aber ist die Zeit der Rache gekommen. Angetrieben vom Bewusstsein, damals zu wenig getan zu haben, um seine Freunde vor den Tätern zu beschützen, beginnt er, es all jenen heimzuzahlen, deren Namen sich in seine Erinnerung brannten.

Friedrich Anis Kriminalromane um seine Serienhelden Tabor Süden, Polonius Fischer, Jonas Vogel oder – in jüngster Zeit – Jakob Franck (Der namenlose Tag, 2015) handeln in der Regel von Vermissten, Menschen, die aus ihrem Leben herausgefallen sind. Aus der Perspektive jener erzählt, die beauftragt wurden, die Verschwundenen wieder aufzufinden oder wenigstens die Ursachen ihres Verschwindens zu ermitteln, lassen sie den Leser an einer Suche teilnehmen, die in existentielle Abgründe führt. Während man dabei in die Seelen vereinsamter, zutiefst verletzter und keine Sprache für ihre Not findender Menschen eindringt, verlässt man selbstverständlich nie die Seite von Recht und Gesetz. In Nackter Mann, der brennt hat der in München lebende, überaus produktive und mit zahlreichen Preisen für sein Schaffen geehrte Autor diesen Blickwinkel zum ersten Mal verlassen und zeigt uns die Welt mit den Augen eines Mannes, der die Hoffnung auf göttliche oder menschliche Gerechtigkeit längst  aufgegeben hat und das Richteramt über jene, die jahrelang ihre Macht über arglose Kinder missbrauchten, selbst übernimmt.    

Auch Coelestin Geiger ähnelt in dem Moment, als er mit 14 Jahren beschließt, sein Dorf zu verlassen, um dem Teufel zu entkommen – „Ich wusste, dass wenn es dunkel wurde, der Teufel kam und kleine Kinder fraß. Mich brachte er nicht runter, der Teufel. Er spie mich wieder aus.“ –, jenen Figuren aus Friedrich Anis Werken, die von einem unbedachtem Wort, einer falschen Geste, einem Missverständnis erst in ihr Innerstes und daraufhin in die Fremde getrieben werden. Allein er kehrt zurück, auch weil zwei von jenen, denen er nicht zu helfen vermochte, ihr Martyrium nicht überlebt haben. Ihnen und allen, die sich damals nicht zu wehren wussten, soll nun durch seine Hand Gerechtigkeit geschehen: „Je mehr Zeit ich im Dorf verbrachte, desto mehr Kinder kamen zurück und scharten sich in  meinem Kopf ums schwarze Brot der Erinnerung.“

Ani erzählt in Nackter Mann, der brennt von einem Opfer, das zum Täter wird. Nicht einmal die eigene Mutter, Johanna Geiger, scheint den Sohn zu erkennen, als der als Ludwig Dragomir Jahrzehnte nach seiner Flucht heimkehrt, ein Anwesen kauft und beginnt, die Liste seiner Peiniger abzuarbeiten. Plötzlich verschwinden Männer oder werden tot aufgefunden. Eine Kommissarin taucht im Ort auf und stellt Fragen. Ihr Verdacht scheint auf den kürzlich Zugezogenen zu fallen – Beweise hat sie keine, also ist Zuwarten angesagt. Doch Ludwig Dragomir gibt sich keine Blöße nach außen. Sein Plan steht fest: „Da stand ich, am Rand der Nacht, zum Morden geboren, zum Sterben bereit und starb nicht und mordete noch lange nicht genug.“

In der Welt, in die Friedrich Ani seine Leser seit dem Erscheinen seines ersten Kriminalromans, Killing Giesing (1996), einlädt, ist es kalt, sehr kalt. Doch noch nie ging es so gnadenlos darin zu wie in Nackter Mann, der brennt. Und noch nie hat es darin einen Protagonisten gegeben wie diesen Heimkehrer. Einen, der, seinem Vornamen – Coelestin heißt „der Himmlische“ – auf unorthodoxe Art gerecht werdend, als Racheengel unter jene fährt, die offensichtlich von keiner irdischen und göttlichen Gerechtigkeit mehr zu erreichen sind. Einen, der, einst im Glauben eine Heimat suchend, inzwischen an nichts und niemanden mehr glaubt. Und der auf die frühe Frage, was er den Menschen denn vergeben wolle, wenn sich sein Wunsch, Pfarrer zu werden, tatsächlich einmal erfüllen sollte, lakonisch antwortet: „Dass sie Menschen sind.“

Titelbild

Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425428

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