Surreal, magisch, experimentell, fragmentiert

Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem evolutionären Übergang von einer ganzheitlichen Naturkunde zur positivistischen Naturwissenschaft, deren starke Ausdifferenzierung ein umfassenderes Erkenntnisstreben verkümmern ließ, schien auch die Naturgeschichte zum Relikt der Vergangenheit zu werden. Geboren aus dem Geist der Antike, hielt sie sich jedoch bis in das Zeitalter der Aufklärung, ja erlebte sogar im 19. Jahrhundert in den Werken Johann Wolfgang von Goethes, Ernst Haeckels und Alfred Brehms einen neuen Höhepunkt. Die ungebrochen hohe Strahlkraft auf Künstler und Literaten in der ästhetischen Moderne möchte Tanja van Hoorn nun in ihrer jüngsten Monografie nachweisen. Letztlich beschreibt sie die Vitalität des nur scheinbar Vergangenen – was wohl tatsächlich das zentrale Anliegen ihres Buchs darstellt, wenngleich die Autorin die These noch zugespitzter formuliert: Historia naturalis erweise sich „nachgerade als ein Motor der Moderne“. Ob vier Fallbeispiele ausreichen, eine derart weitreichende Behauptung hinreichend zu belegen, sei dahingestellt. Zum Nachweis ihrer Thesen wählt van Hoorn eine im Grunde zweiteilige Gliederung. Zunächst lotet sie ihr Untersuchungsfeld aus, indem sie Naturgeschichte in ihrer historischen Entwicklung und anschließend in ihrem Verhältnis zur Geschichtsphilosophie, Kulturgeschichte und Literatur beschreibt. Den Schwerpunkt der Darstellung bilden in den darauf folgenden Kapiteln eingehende Betrachtungen ausgewählter Werke des Künstlers Max Ernst und der Literaten Ernst Jünger, Ror Wolf und W.G. Sebald.

Die ausgewählten Arbeiten sind von sehr unterschiedlichem Charakter und werden insoweit ausdifferenziert untersucht, als dass jedem dieser Geistesarbeiter eine besondere Form der Naturgeschichte zugeordnet wird. Max Ernsts Frottagezyklus Histoire naturelle lasse sich als surrealistisch auffassen, Ernst Jüngers naturgeschichtliches Denken hingegen als magisch. Ror Wolfs Sprachspielen verpflichtetes literarisches Konzept – die in Worten sich spiegelnde Vielfalt der Natur – ließe sich, so van Hoorn, als experimentelle Naturgeschichte beschreiben und schließlich W.G. Sebalds Naturgeschichte der Zerstörung als fragmentiert charakterisieren.  

Naturgeschichte ist laut van Hoorn eigentlich Bestandteil der Historia, weise jedoch ahistorische Züge auf. Naturgeschichte nehme die Arten als gegeben und unveränderlich an und enthalte deshalb nur geringe oder keine evolutionären Tendenzen. Stattdessen seien ihre Vertreter stets in erster Linie um deskriptive Bestandsaufnahme bemüht gewesen. Trotz ihres beschreibenden Charakters beinhaltete die historia naturalis aber eben auch erzählerische und historiografische Elemente. Die Autorin nennt dementsprechend die allgemein bekannten Werke Aristoteles’, Georges-Louis Leclerc Buffons, später die Wilhelm Bölsches und Jean Henri Fabrés. Ihre Liste ließe sich beliebig erweitern.

Für eine Reihe moderner Künstler und Autoren erschien und erscheint die Naturgeschichte als wesentlicher Bezugspunkt des eigenen Werks. Max Ernst entdeckte mehr oder weniger zufällig die schöpferischen Möglichkeiten der Frottagetechnik: Eines Tages fiel ihm ein Zettel auf den Dielenboden und er begann, einem Kind gleich, das Papier mit dem Bleistift zu bearbeiten, sodass darauf Abdrücke erschienen. In der Folge wählte sich der Künstler weitere Gegenstände, Blätter, Mauerreste et cetera. Mit Hilfe dieser Untergründe bildete er Natur ab. Er kümmerte sich hierbei nicht um klassifikatorische Ausleuchtung, um detailgetreue Beschreibung oder um naturgetreue Abbildung von Tieren und Pflanzen. Ernst wird vielmehr zum Schöpfer, der aus Bekanntem Neues, Unbekanntes formt. Scheinbar gedankenlos, wie in einem Rausch, schuf der Künstler auf verschiedenem Untergrund. Der Frottagezyklus ist Bestandteil seines surrealistischen Werks.

Inwiefern jedoch handelt es sich um „Naturgeschichte“? Sie stellt sich hier nicht als Beschreibung tatsächlich vorhandener Formen dar, sondern eher als Versuch, der Realität zu entfliehen. Die im Bild fixierte Natur erscheint starr, unveränderlich. Naturgeschichte wird zum ausgleichendem Korrektiv, zum Fixpunkt in einer vom Rausch der Geschwindigkeit, vom Lärm der Fabriken beherrschten Moderne. Diese mit den Worten Jan Robert Webers zu bezeichnende „Ästhetik der Entschleunigung“ findet sich auch im Werke Ernst Jüngers, der der Entzauberung der Welt einen „magischen Realismus“ entgegensetzt. 

Es mutet zunächst eigenartig an, dass van Hoorn ausgerechnet die Marmorklippen wählt, obwohl die naturgeschichtlichen Ambitionen, die das gesamte Schaffen Jüngers durchziehen, in den Strahlungen, in Myrdun und vor allem in seinem Alterswerk, den Tagebüchern Siebzig verweht noch deutlich ausgeprägter erscheinen. Van Hoorn gelingt es jedoch, einen der Forschung bislang weitgehend verborgen gebliebenen Zug des einzigen im Dritten Reich erschienenen Buches mit eindeutig regimekritischer Tendenz auszuleuchten. Jünger selbst verweigerte sich später dem Attribut des zeitgebunden Widerständigen. Dennoch ist die scharfe Kritik an der NS-Diktatur nicht zu übersehen. Zwei Brüder versuchen, sich den Zeitläufen in einer fiktiven Umgebung unter anderem durch das Studium der Natur zu entziehen. Naturgeschichte wird hier zu einem Ruhepol, der sich der Zeitlichkeit entzieht und aus dem beide angesichts der „Schinderhütten“ jäh entrissen werden. Den Rang, den die Brüder dem Botanisieren beimessen, weiß van Hoorn treffend zu zeichnen. Die Suche nach Pflanzen stellt sich als eine den inneren Widerstandswillen stärkende Kraft dar. Naturgeschichte und hier vor allem die Pflanzenkunde erscheinen als feste Burg wider den diktatorischen – Jünger würde sagen: wider den nihilistischen Geist seiner Zeit. Vor allem spiegle sich in dem Werk die jüngersche Faszination für Carl von Linné, meint die Autorin. Angefangen bei dem Ordnungssystem und den Herbarien über die Beschreibung der  Pflanzen bis hin zur Einrichtung des Arbeitszimmers seiner Protagonisten. Überall wehe der Geist des „Übervaters der Botanik“. Denken und Forschen der Brüder sind geprägt von voraufklärerischem Gedankengut. Sie betreiben Wesensschau. Im Einzelnen wird ihnen das Überindividuelle sichtbar.

Im Falle des zweiten Werkes, dem van Horn ihre Aufmerksamkeit zuwendet, liegt die Zuordnung zur Naturgeschichte auf der Hand: Es sind die Subtilen Jagden, jener umfassende Essay, in dem Jünger seiner entomologischen Leidenschaft Raum gibt. Im Zentrum seiner Betrachtungen stehen verschiedene durchaus bekannte Käferarten. Wie schon in den Marmorklippen, so erscheint auch hier die Jagd als Akt der Besitzergreifung, als Form unermüdlichen Sammelns. Sammeln um zu bewahren und sich dem Zeitgeist zu entziehen. Dass van Hoorn als Vorbild Jüngers hier nur Fabré in Betracht zieht, erscheint befremdlich, bezog sich Jünger doch auf eine Vielzahl von Künstlern und namhaften Entomologen wie Rösel von Rosenhof, Adolf Horion oder Edmund Reitter.

Mit Ror Wolf wendet sich die Autorin einem noch lebenden Literaten und Künstler zu. Der gebürtige Thüringer spielte mit der Vielfalt der deutscher Sprache, um die Vielfalt der Natur zu offenbaren. Endlose Aneinanderreihungen verschiedener Pflanzen- und Tierbezeichnungen fließen in die surreale Handlung seines 1964 erschienenen Romans Fortsetzung des Berichts ein. Wolf habe eine Vorliebe für ungewöhnliche Worte, Namen bestimmter Spezies. So habe er die erstaunliche Vielfalt zweisilbriger Fischnamen in einer Passage wiedergegeben, wie „Plötze, Pleintze, Grundeln“, andere, allgemein bekanntere Fischarten, wie Moderlieschen und Bitterling hätten ihn jedoch nicht gereizt. An derartigen Passagen gewinnt man den Eindruck, dass die Autorin trotz des gewählten Themas im naturwissenschaftlichen Bereich gewisse Lücken besitzt. Dass es sich bei Plötzen oder Grundeln um weniger bekannte Fische handelt, kann wohl niemand ernsthaft behaupten.

Die Aneinanderreihung verschiedener Synonyme ein und derselben Art habe Wolf nicht unbedingt eigener Montagetechnik zu verdanken. Es gäbe ein sehr nüchternes Vorbild, das sich prinzipiell der künstlerische Innovation entzogen habe, meint van Hoorn und nennt Alfred Edmund Brehms Tierleben. Auch dieser habe zahlreiche Synonyme ein und desselben Fisches aneinandergereiht. Nun ist dieses Verfahren schon im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm geläufig und auch in Zedlers Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen Großem Universallexikon.

Mit W.G. Sebald wendet sich die Autorin abschließend einem Lieblingskind jüngerer literaturwissenschaftlicher Forschung zu. Sebald begriff Naturgeschichte als dem Menschen entglittene Geschichte. Die historische Entwicklung wird als fortwährendes Werk der Zerstörung aufgefasst. Unübersehbar sind die Bezüge zu Theodor W. Adorno oder  Walter Benjamins Geschichte als Trümmergeschichte. Ein fabulierender Geschichtenerzähler sei Sebald gewesen, der es beispielsweise in den Ringen des Saturn verstand, eine fiktionale Realität auszubilden, deren teilweise irreale Basis lediglich eifrigen Archivgängern aufgefallen wäre. So ist jene Erzählung von zahlreichen Zitaten und Anspielungen auf klassische, unbekannte, ja erfundene Werke durchsetzt. Zudem erlaubte sich Sebald Eingriffe in direkte Zitate. Schon in den Ringen des Saturn schwingt die grundsätzliche Auffassung Sebalds mit, die Geschichte der Menschheit sei eine „Naturgeschichte der Zerstörung“. Für Sebald war Naturgeschichte ein  geschichtsphilosophisches Modell. Erst in seinem Aufsatz Luftkrieg und Literatur (1999) wird der Gedanke einer Naturgeschichte der Zerstörung umfassend entwickelt, eine Idee, die er übrigens von dem bekannten Zoologen Solly Zuckerman übernahm. Der Brite äußerte diesen Gedanken vor Sebald, ohne jedoch irgendeine entsprechende Publikation vorzulegen. Basis des sebaldschen Nachdenkens über die Naturgeschichte der Zerstörung bilden die in der deutschen Nachkriegsliteratur und in der Wissenschaft auffällig verdrängten psychischen Auswirkungen des alliierten Bombenkrieges gegen Deutschland. In Jahrhunderten gewachsene Städte wurden in wenigen Stunden vernichtet. Was blieb in uns? Aus allem Nachdenken über die Gewalteruption, die Entgrenzung militärischen Agierens, folgert Sebald, dass es keine autonome Geschichte des Menschen gebe. Der Mensch sei eingebettet in die Naturgeschichte, wenngleich Sebald diesen Gedanken später erkennbar relativiert. Inwieweit seine Auffassung von der Unfähigkeit des Menschen das gesellschaftliche Schicksal zu gestalten, selbstverschuldet ist, lässt van Hoorn offen. 1982 in den Ringen des Saturn als Evolution aufgefasst, wird diese Betrachtung der Naturgeschichte im 1999 erschienenen zweiten Luftkriegsessay dann zum bloßen „Mechanismus, nach dem sich Geschichte vollzieht“. Van Hoorn beschreibt diesen Übergang als langsames „Fortschreiten, in dem der Fortschritt nicht erkennbar“ sei.

Die Autorin stellt in ihrer Monografie vier interessante Autoren und Künstler vor, in deren Werk die Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte eine wesentliche Rolle spielt. Hierbei gelingt es ihr jedoch nur bedingt zu verdeutlichen, welche Schnittmengen Ernst, Jünger, Wolf und Sebald aufweisen. Die Formen der Naturgeschichte wirken konstruiert, die einzelnen Teilabschnitte der Arbeit wenig miteinander verzahnt. Auch kann aus nur vier Werken kaum auf eine grundsätzliche Affinität der Ästhetischen Moderne zur Naturgeschichte geschlossen werden. Dennoch ist van Hoorns Werk wertvoll. Scheint auch der rote Faden trotz der eingefügten Zwischenfazits nicht gegeben, so sind doch die einzelnen Kapitel für sich betrachtet mit Gewinn lesbar. Zudem legt Tanja van Hoorn nicht nur ein von hoher literaturwissenschaftlicher Sachkenntnis zeugendes Werk vor, sondern ihr Buch besitzt auch eine ausgesprochen vorbildliche Ausstattung. So wird der vollständige Frottagezyklus Max Ernstens abgebildet. Es ist sicher auch ein Verdienst des Verlages, den sehr umfassenden und anregenden Anmerkungsapparat abzudrucken, in einer Zeit, in der selbst wissenschaftliche Verlage meinen, um der besseren Lesbarkeit willen, hier Eingriffe vornehmen zu müssen. Die zahlreichen Querverweise jedoch sind es, die nach der Lektüre des Buches van Hoorns zur intensiveren Beschäftigung mit dem Themenfeld anregen.

Titelbild

Tanja van Hoorn: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W. G. Sebald.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
423 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-13: 9783835318014

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch