„Wie könnte das alles geschildert werden“

Die Frage nach dem Widerstand im Spiegel des literarischen Werks von Peter Weiss (1916-1982)

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Im künstlerischen Kontext ist der Widerstand eine hemmende Kraft wie eine Antriebsquelle. Die Abwehr gegenüber politischen Regimes oder gegenüber ästhetischen Doktrinen trägt den Keim einer schöpferischen Überwindung in sich. Kunst und Literatur verändern zuerst sich selbst, dann erst die Welt. Während seiner rund zehnjährigen Arbeit an der Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands hat sich Peter Weiss intensiv mit Fragen der politischen Ästhetik auseinandergesetzt. „Sie (die Kunst) stellt die Schwelle dar, von der aus das Bewusstsein das gesellschaftliche Sein verändert“ (NB 2, 421), formuliert er programmatisch. Zugleich war ihm aus eigener Erfahrung bewusst, dass eine solche Gleichsetzung wenig besagt; wichtig sind vielmehr die feinen Differenzierungen zwischen den beiden Kategorien.

Widerstand gegen die eigene Biographie

Im zweiten Band der Trilogie beschreibt Weiss, wie sein fiktiver Ich-Erzähler, dem spanischen Bürgerkrieg entkommen, in Paris eintrifft. Er will im Louvre Théodore Géricaults Gemälde Das Floß der Medusa sehen, das er von Reproduktionen her kennt. Der soeben erlebte Schrecken erhält darin künstlerische Evidenz. Auf dem Weg zum Louvre stellt er sich vor, wie er selbst in die kommunistische Partei eintreten will: „die politische Entscheidung, die Unversöhnlichkeit vor dem Feind, das Wirken der Imagination, dies alles fügte sich zu einer Einheit zusammen“ (ÄdW II, 19). Für diesen Aufbruch ist Das Floß der Medusa ein Symbol. Doch vor dem wirklichen Gemälde stehend, bemerkt der Erzähler, dass es alle Farbigkeit und Frische vermissen lässt. Die Zeit hatte es nachgedunkelt. „Plötzlich kam ich nicht weiter bei der Bemühung, das Bild zu verstehen, allzuviel schien es zu enthalten vom persönlichen Wesen des Malers, von der Unruhe, der Unzufriedenheit, die ihn selbst zerfraß.“ (ÄdW II, 22) Der Betrachter erkennt die eigene Situation wieder. Schlagartig eröffnet sich ihm (und seinem Autor Peter Weiss) „durch eine Fülle von Ablagerungen“ (ÄdW II, 14) der Blick auf die eigenen Schaffensqualen.

Die Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands wirft Fragen auf, die Peter Weiss seit seinen künstlerischen Anfängen beschäftigen. Die Metapher des Floßes und der Insel tauchen schon früh in seiner Malerei der 1930er Jahre auf. Sie ist ambivalentes Sinnbild für schöpferische Ruhe ebenso wie für Verlassenheit. Sie spiegelt den intensiven Konflikt zwischen Aufruhr und Unterwerfung, in Weiss‘ eigenen Worten aus einem Gespräch mit Volker Canaris 1971: „es ist ständig der gleiche Konflikt – der Dualismus von Utopie, Wunschbild, Traum, Poesie, Humanismus, Veränderungstrieb kontra Außenwirklichkeit, Dogma, Erstarrung, Zwang, Kompromiss, Repression. Immer handelt es sich um Menschen, die sich mit ihrer ganzen Person einsetzen für eine grundlegende Umwandlung der existentiellen Verhältnisse und die von der Realität in die Enge gedrängt und bis an den Rand der Vernichtung oder bis in die tatsächliche Vernichtung getrieben werden.“

In dieser Aussage klingt ein Zitat an aus dem Stück Hölderlin, das 1971 erschien. Der junge Karl Marx spricht:

Zwei Wege sind gangbar
zur Vorbereitung
grundlegender Veränderungen
Der eine Weg ist
die Analyse der konkreten
historischen Situation
Der andere Weg ist
die visionäre Formung
tiefster persönlicher Erfahrung

 Der Dichter Hölderlin pflichtet ihm bei:

es müssen Fantaisie und Handlung seyn im gleichen Raum
nur so wird das Poetische universal
bekämpfend alles was verbraucht und schaal

Der am 8. November 1916 in Nowawes bei Potsdam geborene Peter Weiss wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, die nur einen Makel hatten: sein Vater war ein zum Protestantismus konvertierter Jude. Deshalb wechselte die Familie in den 1930er Jahren mehrfach den Wohnort. Die Stationen sind Berlin, London, Warnsdorf (Böhmen), ab 1939 schließlich Alingsås in Schweden. Im jungen Peter Weiss erzeugten diese Wechsel Gefühle der Heimatlosigkeit. Zugleich nährten sie den Traum von einem universellen Künstlertum, wie er es im Werk von Hermann Hesse widergespiegelt fand. Weiss beschließt, Künstler zu werden, gegen alle Widerstände. In seiner neuen schwedischen Heimat beginnt er – neben der Malerei – auch auf Schwedisch zu schreiben und Filme zu drehen. Allerdings weitgehend ohne Erfolg. Die „große Gnade Künstler sein zu dürfen“, wie er 1939 in einem Brief an seine Freunde Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk schrieb, wechselte ab mit dem Gefühl, „ein unglücklicher Mensch“ zu sein.

Beinahe aus dem Nichts erschien 1960 im renommierten Suhrkamp Verlag die Prosa Der Schatten des Körpers des Kutschers. Dadurch ermutigt, publizierte Weiss in den darauf folgenden Jahren zwei Bücher, die unvermittelt auch Erfolg hatten: Abschied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt (1962). Sie markieren eine tiefe Zäsur. Weiss arbeitet in beiden Werken seine eigene Vergangenheit ab. Vordergründig wirken sie autobiographisch, im Kern aber sind sie – trotz ihrer Nähe zur eigenen Biographie – literarische Konstruktionen. Peter Weiss inszeniert sich selbst in der Rolle des jungen Schriftstellers als Rebellen. Unter diesem Vorsatz interessierte ihn nicht, wen er liebte, was er mochte, wem er vertraute. Das Gute seiner Jugendzeit überging er. Interessant waren nur die Widerstände, die er zu überwinden hatte. Weiss beschreibt „die Situation des Bürgers, der zum Revolutionär werden möchte und den die Gewichte alter Normen lähmen“, wie es in Abschied von den Eltern heißt. Indem er sie überwindet, findet er zu einem befreiten, selbstbestimmten Künstlertum und zu einer geschärften Wachsamkeit für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse.

Der fundamentale Antagonismus

1964 feierte Peter Weiss seinen ersten Bühnenerfolg mit dem Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Dieses vitale, vielschichtige „Weltanschauungstheater“ beinhaltet im Kern einen Disput zwischen dem extremen Individualisten Marquis de Sade und dem Revolutionär Jean-Paul Marat. Sade sitzt in der Irrenanstalt zu Charenton ein. Mit den psychiatrischen Patienten inszeniert er im Jahre 1808 ein selbstverfasstes Theaterstück, das die Ermordung Marats darstellt. Die Vorführung geht mal schleppend, mal turbulent vonstatten, weil die Spielenden immer wieder in ihre psychotischen Zustände zurückfallen. Unter den Darstellern befinden sich allerdings auch politische Gefangene wie Sade selbst oder der Revolutionär Jacques Roux.

Den Antagonismus zwischen Sade und Marat benutzt Weiss, um zwei „revolutionäre“ Anschauungsweisen einander gegenüber zu stellen:

SADE
Du wolltest dich einmengen in die Wirklichkeit
und sie hat dich in die Enge gedrängt
Ich
habe es aufgegeben mich mit ihr zu befassen
mein Leben ist die Imagination
Die Revolution
interessiert mich nicht mehr

MARAT
Falsch Sade falsch
mit der Ruhelosigkeit der Gedanken
lässt sich keine Mauer durchbrechen
Mit der Schreibfeder kannst du keine Ordnungen umwerfen
Wie wir uns auch abmühen das Neue zu fassen
es entsteht doch erst
zwischen ungeschickten Handlungen

Zwischen den zwei konträren Positionen entspinnt sich ein Disput, die ins Zentrum aller gesellschaftlichen Veränderung zielt. Die Frage lautet: Was muss sich zuerst verändern, das Individuum (Sade) oder die Gesellschaft (Marat)?

Peter Weiss bleibt vorsichtig. Bei genauer Betrachtung der Struktur des Dramas fällt auf, dass Sade und Marat einander nicht ebenbürtig sind. Der mental gesunde Sade dachte sich ein Stück aus, in dem der Irre Marat die Hauptrolle spielt. Demnach beherrscht Sade das Stück, Marat ist bloß eine Spielfigur seiner Imagination. Über diese hierarchische Konfiguration können auch Weiss‘ spätere Beteuerungen nicht hinwegtäuschen, dass er die Position Marats für richtig halte. Im Stück scheint Sades Zynismus über das von Marat formulierte revolutionäre Pathos zu obsiegen. Doch die Antithese zwischen individueller und sozialer Revolution wird von einem lärmenden Irrsinn grundiert.

Die Situation ist Peter Weiss selbst bekannt. Hat er nicht selbst zuerst die persönliche Biographie überwinden müssen, um zu einer politischen Haltung zu gelangen? Er legt diesbezüglich bald alle Zweifel ab. In Zehn Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt gibt er 1965 den eigenen „Standpunkt des Abwartens“ auf und erklärt unter Punkt 1 unmissverständlich: „Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung übergebe, ist politisch“. Punkt 10 formuliert abschließend, dass der Sozialismus fortan seine Richtschnur „für die gültige Wahrheit“ sei.

Damit schreibt Weiss seinem künstlerischen Schaffen eine neue Basis fest: Hier stehe ich, ein Sozialist, und von hier werde ich keinen Schritt zurückweichen. Doch dem verpflichtenden politischen Bekenntnis ist die für Weiss typische Stilfigur des Widerstands eingeschrieben. Das Individuum darf nicht hinter ideologische Dogmen zurücktreten. Selbstkritik und Disput sind integrale „Bestandteile des Sozialismus“, wie er schreibt. Deshalb protestiert er zur selben Zeit vehement gegen die doktrinäre Haltung im Fall des DDR-Kritikers Wolf Biermann. „Wir können nicht für die Freiheit des Wortes eintreten, ohne diese Freiheit auch dort zu fordern, wo sie absolut zu finden sein müsste: im Sozialismus.“

Blicken wir nochmals auf Marat / Sade zurück. Die Polarität im Kurztitel übersieht, dass es in dem Stück eine dritte Figur gibt: Jacques Roux. Im Gegensatz zu Marat wird er nicht von einem gedächtnisschwachen Neurotiker gespielt, dem eingeflüstert werden muss, sondern von einem vitalen Revolteur, der in Charenton „wegen politischer Radikalität“ einsitzt. Ist die Abhängigkeit Marats von Sade jederzeit manifest, bleibt die Hierarchie zwischen dem Spielleiter Sade und Roux bis zuletzt unklar. Hat Sade auch die von Roux deklamierten Parolen verfasst? Oder deklamiert sie Roux unabhängig und frei? Auf jeden Fall radikalisiert und konkretisiert Roux die Position Marats: Roux ist der wahre Agitator der Massen. Er signalisiert, dass es fortan nicht mehr um theoretische Revolutionskonzepte gehen würde, sondern um konkreten Widerstand. Und Roux ist es auch, der am Ende das letzte Wort behält: „Wann werdet ihr sehen lernen / Wann werdet ihr endlich verstehen“.

Diese aufrührerische Figur weist auf die Stücke voraus, in denen Peter Weiss sein Konzept eines „dokumentarischen Theaters“ auf die Bühne bringt. Während Die Ermittlung Widerstand gegen das Vergessen leistet, fordern die nächsten Stücke entschieden zum Handeln gegen Ausbeutung und Imperialismus auf. Weiss nimmt darin Partei und greift aktiv in herrschende Diskurse ein. Im Gesang vom lusitanischen Popanz wandte er sich 1967 dem Thema der Ausbeutung und Unterdrückung in den kolonialisierten Ländern des Südens zu und analysierte mit theatralischen Mitteln die herrschende Ungleichheit. Der Mangel an Bildung und Kultur ist der Nährboden für die Knechtschaft. Ihr Vorhandensein dagegen stimuliert die emanzipatorischen Kräfte und ermöglicht überhaupt erst die Befreiung. Im Viet-Nam-Diskurs nimmt er 1968 die dramatische Handlung ganz zurück zugunsten einer analytischen Abstraktion. Doch dieses theatralische Schachspiel blieb allzu abstrakt und ohne emotionale Kraft.

Die Ästhetik des Widerstands

1975 erscheint dann der erste Band von Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Auf eintausend Seiten im Quartformat schildert Weiss den antifaschistischen Widerstand der Jahre 1937-1944. Im Zentrum steht ein Ich-Erzähler, der zwischen fiktionaler Narration und historisch genauen Fakten vermittelt. Von Berlin aus reist er nach Spanien, um am Kampf gegen Franco teilzunehmen. Nach der Demobilisierung der Internationalen Brigaden besucht er Paris und den Louvre, fährt anschließend weiter ins schwedische Exil. Hier tritt er in Kontakt mit Exponenten des Widerstands, Max Hodann und Bertolt Brecht, und engagiert sich in der kommunistischen Partei. In der Zwischenzeit haben sich seine Freunde Coppi und Heilmann in Berlin der Widerstandsgruppe „Die rote Kapelle“ angeschlossen. 1942 werden sie verhaftet, gefoltert und schließlich hingerichtet, wie der Roman akribisch beschreibt. Von der Gruppe entkommt einzig Lotte Bischoff mit einem Schiff nach Schweden.

Diese Handlung und die daran beteiligten Personen haben mit Ausnahme des Erzählers und seiner Eltern real existiert. Der Roman beschreibt also eine authentische Fiktion, wie Weiss betont: „Alles ist doch frei behandelt, einem Roman gemäß“, aber stets im Bemühen darum, den Personen „nichts anzudichten, was sie nicht hätten tun oder sagen können“. (NB 2, 926f.) Weiss lässt die Widerstandskämpfer nochmals aufleben in einem Kontext, der den antifaschistischen Widerstand mit Debatten über eine gerechte, sozialistische Zukunft verbindet.

Im Titel Die Ästhetik des Widerstands konzentriert sich diese ganze Energie. Er hat programmatischen Anspruch bezüglich der Interdependenz von Kunst und Politik. Seine Genitiv-Form lässt sich dreifach lesen als:

a. die vom Widerstand ausgehende Ästhetik, der Widerstand enthält das Ästhetische in sich;

b. die zum Widerstand hinführende Ästhetik, die Ästhetik enthält das Widerständige in sich;

c. Widerstand und Ästhetik  lassen sich mit der Gleichung Ästhetik = Widerstand darstellen. 

Peter Weiss zielt so auf eine Ästhetik, die das Ganze umfasst. Das hartnäckige Ringen um diesen Anspruch ist in seinen Notizbüchern einbeschrieben: „Hier ist die Rede von einer Ästhetik, wie sie gesucht wird mitten im Widerstand gegen die brutale Unterdrückung“ (NB 2, 423), heißt es darin, oder: „Was ist Schönheit? Schönheit ist Handlung. Wird sichtbar in einer Geste, einer Tat.“ (NB 2, 315) Und aus anderer Perspektive: „Die politische Handlung als Kunstwerk.“ (NB 2, 713) Die Ästhetik ruft zum Widerstand gegen „die herrschenden Ideen“ (NB 2, 613) auf, umgekehrt wird der Widerstand als schöpferischer Akt betrachtet. Für diese zwei Aspekte benutzt Weiss in der Ästhetik des Widerstands zwei narrative Strategien.

A. Diskussion und Widerspruch

Immer wieder schildert der Roman detailliert, wie die Protagonisten über politische Fragen debattieren – beispielsweise in Spanien, als die ideologischen Gegensätze zwischen Stalinisten und Anarchisten zur Sprache kommen. Auch wenn der Roman dezidiert Partei ergreift im Kampf gegen den Faschismus, widersteht er den ideologischen Orthodoxien. Diskussion, Widerspruch und Zweifel sind Herzstücke einer „kämpfenden Ästhetik“ (NB 2, 420). Alle Positionen müssen permanent in Frage gestellt werden. „Wehren müssen wir uns dagegen, fertige Ansichten zu übernehmen“, ruft der Vater des Erzählers, denn „im Namen der Partei“ sind auch viele „Vorkämpfer der neuen Ordnung“, beispielsweise gegen die Rebellion von Kronstadt 1921, vernichtet worden. (ÄdW I, 123) Indem Weiss die Gegensätze und Widersprüche stehen lässt, überlässt er es den Lesern, eine Wahl zwischen den unterschiedlichen Positionen zu treffen. Erkenntnis und Bildung sind Voraussetzungen jeder Befreiung, wie der Schriftsetzer Münzer sagt: „Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern. Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen.“ (ŽÄdW I, 226) Diese Aussage erinnert an Marat / Sade.

B. Diskurs über Kunst

Die Kunst spielt dabei eine zentrale Rolle. Mit seinen Freunden befasst sich der Erzähler intensiv mit Werken wie Dantes Inferno, Kafkas Das Schloss, Géricaults Floß der Medusa, Picassos Guernica oder Brechts Engelbrekt-Projekt. Die Auseinandersetzung über ihre ästhetischen Strategien bildet einen Reflexionsraum, in dem sich das Individuum frei macht von politischem Aktionismus, um neue Ideen zu suchen und den Blick für die Zukunft zu schärfen. Darin liegt ein „Moment des reflexiven Bewusstseins“, wie Jean-Paul Sartre in Was ist Literatur? schreibt.
Gleich zu Beginn des Romans vertiefen sich Coppi, Heilmann und der Erzähler in die Betrachtung des Pergamonaltars in Berlin, um ihn „gegen den Strich“ aus ihrer eigenen Optik zu verstehen. Je genauer sie hinschauen, umso mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit. Stilbildend demonstrieren dies gleich die ersten Seiten des Romans, wenn Coppi, Heilmann und der Ich-Erzähler  vor dem Pergamonn-Fries stehen. Die anfänglich ganz sachliche Beschreibung des dargestellten Geschehens schlägt unvermittelt um und involviert die Betrachter direkt in den Kampf der proletarischen Giganten gegen die Übermacht der Olympier respektive der Faschisten. Peter Weiss verbindet die zwei Ebenen lediglich mit einem schlichten „und“:  Die Finger der Göttin „bewegten sich unterhalb des Simses entlang, suchten nach den verwischten Spuren eingeritzter Buchstaben, und Coppis Gesicht, mit kurzsichtigen Augen hinter Brille mit dünnen Stahlrand, näherte sich den Schriftzeichen…“ (ÄdW I, 8)

Widerstand der ästhetischen Form

Ursprünglich hieß das Projekt nur Der Widerstand. Im Laufe der Arbeit aber veränderte sich das Konzept. Weiss mühte sich ab mit der Frage, ob und wie die enge Verflechtung von Politik, Kunst und Widerstand geschildert werden könnte. Schließlich fand er für die monströse Aufgabe eine monströse Form. Die Ästhetik des Widerstands operiert mit langen, verschlungenen Sätzen und kompakten Textblöcken ohne Absätze. Einzig Leerzeilen nach jeweils 10-15 Seiten markieren kleine Zäsuren. So wird die komplexe diskursive Struktur durch eine straffe Form gebändigt. Darin manifestiert sich der Widerstand, den der Autor selbst beim Schreiben zu überwinden hatte und mit dem sich auch seine Leser beim Lesen auseinandersetzen müssen. Der Roman appelliert so an eine „akribische Lektüre“, wie sie Roland Barthes in Die Lust am Text beschreibt: Diese „Lektüre lässt nichts aus; sie ist schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit, erfasst an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, das die Sprachen zerschneidet – und nicht die Anekdote“.

Die Form selbst leistet Widerstand. „Kunst entsteht aus paradoxen Situationen, aus Konflikten“ (NB 2, 219), notiert Weiss, und an anderer Stelle: „Ästhetische Fragen sind immer politische Fragen“ (NB 2, 423). Um ihrer emanzipatorischen Funktion gerecht zu werden, müssen Kunst und Literatur sich von der politischen Instrumentalität lösen. Ihre Begegnung mit der Politik ist nie konfliktfrei. Schon im März 1970 hat er notiert: „Kunst ist nie Waffe im Sinn der konkreten politischen Aktion. Sie vermittelt nur Aktivität, sie teilt uns Eigenschaften mit, die wir selbst in uns verspüren müssen. Wir sind es, die bei unsrer Annäherung die im Kunstwerk gebannten Kräfte befreien.“ (NB 1, 714f.)

In der Ästhetik des Widerstands begegnen sich Lenin und die Dadaisten (ÄdW II, 57ff.), im Stück Trotzki im Exil von 1970 diskutieren Trotzki und Breton miteinander. Breton lehnt dabei eine Unterordnung unter die Doktrin der Partei ab und hält ihr „eine höhere Forderung, die Forderung der Wahrheit“ entgegen. Trotzki stimmt zu, indem er ans Gemeinsame, „an die menschliche Solidarität“ appelliert. In dieser (abermals) dialogischen Struktur bleibt der grundsätzliche Dissens bestehen.

Tragischerweise stieß Peter Weiss‘ differenzierte Auseinandersetzung auf überraschenden Widerstand. Radikale Studenten stürmten 1970 die Hauptprobe von Trotzki im Exil und kränkten Weiss aufs Tiefste. Er geriet in eine dreifache Krise: politisch, literarisch und körperlich. Das 1991 posthum erschienene Rekonvaleszenz-Tagebuch erzählt eindrücklich davon. Weiss erfuhr am eigenen Leib, dass die Wahrheit, die er suchte, nur eine ganz und gar subjektive Wahrheit sein konnte. Sie musste somit eine genuin künstlerische Form finden. In letzter Instanz ist es – im Geiste des frühen Marx – stets „ein individuelles Erleben, das dem Engagement zugrunde liegt“. In der Kunst fand Peter Weiss jenen Ort, in dem sich seine individuelle und politische Haltung entfalten konnte. Seine persönliche Ästhetik des Widerstands gründet nicht auf Theorien, sondern beweist ihre Unabhängigkeit in der Freiheit der künstlerischen Arbeit.

Nachweise:

Die Ästhetik des Widerstands. Roman. 3 Bände, Frankfurt 1975, 1978, 1981. (=ÄdW I-III)

Notizbücher 1. 1960-1971. Frankfurt 1982. (=NB 1)

Notizbücher 2. 1971-1980. Frankfurt 1981. (=NB 2)