Faszination des unabgeschlossenen Seins

Die Vorgänge um die Dissertationsverteidigung des russischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Michail M. Bachtins bergen unerwartet aktuelle Aufschlüsse über russische Zustände

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kaum ein anderer Denker aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion hat der Literaturwissenschaftler und Philosoph Michail Bachtin (1895–1975) weit über die Grenzen hinaus die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Seine umfangreiche Dostojewskij-Studie wie auch die vielschichtige Untersuchung der Romanwelt des französischen Renaissance-Schriftstellers François Rabelais wurden international rezipiert, zentrale Begriffe wie „Chronotopos“, „Lachkultur“, „Polyphonie“ oder „Karnevalisierung“ entfalteten eine gewaltige, bis heute anhaltende Wirkungsgeschichte.

Bereits in den 1920er-Jahren war Michail Bachtin in die Mühlen der sowjetischen Justiz geraten und in die Verbannung nach Kasachstan verurteilt worden. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs wie auch die Paranoia der stalinistischen Kulturpolitik verhinderten einen geordneten wissenschaftlichen Diskurs. Diesen äußeren Umständen war es geschuldet, dass zwischen der Abfassung von Bachtins Schriften und deren Veröffentlichung und Rezeption zuweilen Jahrzehnte lagen.

Seine Arbeit über Rabelais hatte Bachtin im Sommer 1946 beim Moskauer Gorkij-Institut für Weltliteratur eingereicht. Im vorliegenden Bändchen sind neben der stenografierten Mitschrift der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats auch die Materialien zur Dissertationsverteidigung sowie die offiziellen Gutachten abgedruckt.

Bachtins umfangreiches Werk zu Rabelais und seiner Welt mutete im Umfeld sowjetischer Forschungsvorgaben wie ein Paradiesvogel an, der sich in einen Hühnerstall verirrt hat. Seine Untersuchungen widmeten sich den bereits in historischen Formationen belegbaren Verfahren von Parodie und Travestie, welche in Rabelais’ Romanwelt eine ausdrucksstarke Funktion einnehmen.

„Der Roman passt in keiner Weise in das Prokustesbett der theoretischen und historischen Literaturwissenschaft“ merkt Bachtin in der Anhörung seines Inauguralvortrages an. Ihm waren die Grenzen traditioneller literaturwissenschaftlicher Herangehensweisen bewusst geworden. Rabelais hatte es in meisterhafter Weise verstanden, volkstümliche Stimmungen des Mittelalters mit der ideologischen Herausforderung der Renaissance zu verbinden.

Im Gelächter und auf den Marktplätzen wurden ewige Wahrheiten hintertrieben. Hierbei faszinierte Bachtin „die Tradition einer besonderen Form des Unfertigen, des unabgeschlossenen Seins“. Diese verschiedenen Formen einer subversiven Lachkultur stehen der Parteilichkeit eines marxistisch-leninistischen Kulturverständnisses diametral gegenüber. Diese vorliegende Zusammenstellung verdichtet wie in einem Brennglas das ideologische Dilemma einer totalitären Kulturpolitik. Sichtbar wird das Ringen sowjetischer Wissenschaftler im Zwiespalt ertragreicher Forschung und der Pflicht, einen ideologisch korrekten Standpunkt zu vertreten.

Die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse, die wiederholt in der jüngeren Bachtin-Forschung mit gediegenen Untersuchungen hervorgetreten ist, hat in einem umfangreichen Vorwort auf verschiedene Akzente der Bachtin-Rezeption in autoritären Regimen hingewiesen. So ist es weitgehend unbekannt, dass ausgerechnet die 1975 in der ČSSR erschienenen Übersetzung des Rabelais-Werkes von Michail Bachtin eine gewisse Rolle in jenen politischen Prozessen eingenommen hatte, in denen unbotmäßige Mitglieder der Rockband „Plastic People oft the Universe“ ausgerechnet wegen „obszöner Texte“ angeklagt und verurteilt wurden. In Folge dieser skandalösen Vorgänge hatten sich bislang Persönlichkeiten wie der Dramatiker Václav Havel, der reformkommunistische Politiker Jiří Hájek oder der Philosoph Jan Patočka zusammengetan, um das Bürgerrechtsmanifest CHARTA 77 ins Leben zu rufen. Sylvia Sasse belegt, auf welch eindrucksvolle Weise der damalige Strafverteidiger die Anklage in konsequenter Anwendung der von Bachtin herausgearbeiteten Funktionen einer „Lachkultur“ in arge Bedrängnis gebracht hatte. Nachdenklich stimmen vor allem Sasses Hinweise auf das moderne, postsowjetische Russland, wo sich zuweilen erneut eine Angst vor dem Lachen einzustellen scheint. In diesem Zusammenhang weist Sylvia Sasse auf fanatische christliche Fundamentalisten hin, die mit gewalttätiger Militanz avantgardistische Kunstpräsentationen attackierten. Selbstverständlich sind manche künstlerischen Objekte auf ihre Qualität hin hinterfragbar. Schwerer wiegt freilich das Ausbleiben des heldenhaften Einsatzes dieser Hexenjäger im unermüdlichen Kampf gegen Blasphemie zu Sowjetzeiten.

In heutiger Zeit übernimmt die russische Staatsanwaltschaft das Zurechtrücken unangebrachten Lachens über die Wirklichkeit. Sylvia Sasse kommt zu einem ernüchternden Resümee: „Die politische Macht der Sowjetunion konnte Bachtins Buch nicht wirklich verdammen, ohne ihre eigene Selbstsakralisierung zu entlarven, also war Bachtin in der Sowjetunion auch nicht wirklich angreifbar. Erst jetzt, mit der Restituierung der religiösen Macht im Staat, ist die Idee der Karnevalisierung dieser Macht zu einer Gefahr geworden“.

Titelbild

Sylvia Sasse (Hg.): „Das Lachen ist ein großer Revolutionär“. Michail M. Bachtins Dissertationsverteidigung im Jahr 1946.
Übersetzt aus dem Russischen von Anne Krier.
Edition Schublade, Zürich 2015.
124 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783906305011

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