Grauzonen des Sittengesetzes

Annette von Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ erscheint in neuer Aufmachung

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Judenbuche, erstmals 1842 im „Morgenblatt für gebildete Leser“ erschienen und aus dem Kanon der deutschen Literatur nicht wegzudenken, liegt in einer neuen Ausgabe aus dem Verlag Dörlemann als Band zwei der Reihe „Liebling“ vor. Dieses Buch empfiehlt den Klassiker nicht nur jenen, die ihn bisher noch nicht kennen, sondern gibt auch Anlass, ältere Lektüreerfahrung aufzufrischen und Annette von Droste-Hülshoffs vielschichtige Darstellung ethischer Konflikte wiederzulesen. Die Judenbuche ist eine Erzählung, deren zentrale Ereignisse die Morde an einem Förster und an dem Juden Aaron sind. Der Untertitel lautet aber nicht etwa „Eine Kriminalgeschichte“, sondern „Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“ (im Erstdruck „gebirgigten Westphalen“), was von Anfang an zweierlei in den Fokus rückt: erstens die gesellschaftliche Ordnung, die auf Gewohnheiten und Ritualen beruht, und zweitens die Landschaft im topografischen Sinn und als Region.

Der Protagonist der Erzählung ist Friedrich Mergel, mit dessen Geburtsjahr, sozialer Herkunft und Wohnort gleich im ersten Satz der Erzählung der äußere Rahmen der Handlung abgesteckt ist: geboren 1738, Vater Grundeigentümer geringerer Klasse im Dorf B., das in einer bewaldeten Gebirgsschlucht liegt. Was folgt, spielt in der Zeit bis zur Französischen Revolution im Dorf inmitten tiefer und den Holzdiebstahl begünstigender Waldeinsamkeit. Friedrichs Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker, wenn auch anfangs ein „ordentlicher“, der sich nur an Sonn- und Feiertagen betrinkt, ansonsten aber funktioniert. Friedrichs Mutter Margreth ist seine zweite Frau, die bei ihrer Heirat glaubt, reformierenden Einfluss auf den nach dem Tod seiner ersten Frau zunehmend verwahrlosenden und dementsprechend im sozialen Gefüge des Dorfes abgesunkenen Hermann Mergel ausüben zu können, damit aber scheitert. Als Mergel betrunken im Wald erfriert, verschlechtert sich nicht nur die wirtschaftliche Lage Margreths und ihres Sohnes weiter, das Kind ist wegen des unrühmlichen Endes des Vaters, der laut der Bewohner des Dorfes als unruhiger Geist durch den Wald spukt, auch Spott und Anfeindungen ausgesetzt. Friedrich, wegen des Lebenswandels seines Vaters aus der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt, wird von seiner Mutter eher lasch erzogen und hütet die Kühe. Als Friedrich zwölf ist, wird er von seinem Onkel Simon Semmler adoptiert und begegnet in dessen Haus Johannes, dem unehelichen und nicht anerkannten Sohn Simons. Johannes ist eine unterdrückte, verhuschte Version von Friedrich, der durch dieses Faktotum an seiner Seite hochmütig, überheblich und eitel wird.

Mit 18 Jahren liefert Friedrich den Förster Brandis, der ihn in seinem Stolz verletzt hat, einer Bande von Holzdieben aus, wohlwissend, dass er damit ein Menschenleben aufs Spiel setzt. Der erste Mord der Erzählung ist von Friedrich zu verantworten, auch wenn Margreth sich einzureden versucht, er hätte nicht gewusst, was er tut. Kurz zeigt Friedrich Zeichen der Reue, aber unter dem Einfluss von Simon entwickelt er Skrupellosigkeit und Tücke, die ihm eine Vorrangstellung in der Dorfgemeinschaft sichern; nicht respektiert, aber als unberechenbar gefürchtet. Die gerichtliche Untersuchung zum Mord am Förster konfrontiert die Justiz in Gestalt eines Gerichtsschreibers mit einer Gemeinschaft von Bauern, „sämtlich angesessene, unverdächtige Leute“, denen die Aufklärung des Mordes an einem unbeliebten Vertreter der Grundherrlichkeit kein besonderes Anliegen ist. Friedrich, der die Tatwaffe als Axt seines Onkels Simon erkennt, leugnet das.

Vier Jahre später: Wieder wird Friedrich in seinem Stolz verletzt, diesmal durch den Juden Aaron, der ihn bei einer Hochzeitsfeier öffentlich auffordert, seine Schulden zu bezahlen, eine „große, unerträgliche Schmach“. Friedrich verlässt in innerer Aufruhr das Fest, drei Tage später wird Aaron erschlagen unter einer Buche gefunden. Der Verdacht fällt auf Friedrich, der sich der Verhaftung durch Flucht entzieht. Gleichzeitig mit ihm verschwindet auch sein verschüchterter Cousin Johannes. Die jüdische Gemeinde kauft die Buche und schnitzt in Hebräisch den Satz „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ in den Baum. Friedrich bleibt verschollen.

Nach 28 Jahren taucht vermeintlich Johannes wieder im Dorf auf, zurück aus türkischer Gefangenschaft, in die er in Ungarn geraten ist. Der Gutsherr unterstützt den physisch und psychisch gebrochenen Heimkehrer. Nach kurzer Zeit wird er wieder vermisst, eine Leiche wird gefunden und vom Gutsherren identifiziert: Der Heimkehrer war in Wahrheit Friedrich, dessen Selbstmord an der Judenbuche zum Geständnis des Mordes an Aaron wird.

Im Zuge des unergiebigen Gerichtsverfahrens zum Mord am Förster Brandis erfahren wir von der Erzählinstanz: „Es würde in einer erdichteten Geschichte unrecht sein, die Neugier der Leser so zu täuschen. Aber dies alles hat sich wirklich zugetragen; ich kann nichts davon oder dazu tun.“ Dieser Anschein des Dokumentarischen wird im Text nicht nur durch einen gelegentlich an ein Protokoll erinnernden distanzierten Stil erzeugt, sondern vor allem durch die Uneindeutigkeit von Schuld und Unschuld und durch die Grautöne des Sittengesetzes. In der Wirklichkeit sind Gut und Böse nicht so klar geschieden, wie es so manche Fiktion suggeriert, und: „das Wahre ist nicht immer wahrscheinlich“. Schon der neunjährige Friedrich lernt von seiner Mutter, dass es zwar einerseits nur Schwarz und Weiß gibt – dass der ordentliche „angesessene“ Mann Hülsmeyer dem Juden Aaron sechs Groschen wegnimmt, kann nur bedeuten, dass der ihn zuvor darum betrogen hat, denn „die Juden sind alle Schelme“ –, dass es aber andererseits mit der Wahrheit doch nicht so einfach ist. Denn wenn der Förster sagt, Hülsmeyer stiehlt Holz und Rehe, lügt er zwar nicht, aber gestohlen hat Hülsmeyer die Gaben des Waldes, die niemandem gehören können, doch nicht. Annette von Droste-Hülshoff stellt in ihrer Erzählung mit scharfem Blick die Ungeheuerlichkeit einer Welt dar, in der aus Gewohnheit keine Gerechtigkeit zu erwarten ist, in der Feindseligkeit gegen Außenseiter, Arme und Juden zu den Sitten gehören und in der das Funktionieren des Zusammenlebens nicht auf Reden, sondern auf Schweigen basiert. Die Komplexität ethischen Verhaltens vermittelt sich selten besser als in diesem kurzen Prosatext, der zu Recht immer noch zur Schullektüre zählt.

Dass der Züricher Verlag Dörlemann eine leinengebundene Ausgabe des Klassikers auflegt, ist erfreulich. Schade, dass die Gelegenheit versäumt wurde, den immerhin 174 Jahre alten Text durch Worterklärungen für heutige Leser zugänglicher zu machen und sie nicht mit „Hechelkrämer“ und „Papen“ oder der alten Bedeutung von „blutrünstig“ und „hektisch“ allein zu lassen. Auch ein sinnstörender Druckfehler in der kurzen biografischen Skizze zur Autorin verwundert. Lesenswert bleibt Die Judenbuche aber allemal und bei dieser Ausgabe ist die Lektüre auf jeden Fall auch ein haptisches Erlebnis.

Titelbild

Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen.
Dörlemann Verlag, Zürich 2016.
109 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200376

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch