Die Steigerungslogik der Industriegesellschaften im Spiegel jahrzehntealter Philosophie

Weshalb ein (Rück-)Blick auf Herbert Marcuse und sein Werk „Der eindimensionale Mensch“ das Motto „Make America Great Again“ umso alarmierender erscheinen lässt

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Hauptwerk Herbert Marcuses, One-Dimensional Man, 1964 erschienen und drei Jahre später auch in Übersetzung durch Alfred Schmidt in Deutschland unter dem Titel Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verlegt, ist einer der stärksten Appelle an die Negation der Technokratie durch Kritik, eine der aussagekräftigsten Anklageschriften an die konsumbasierte Instrumentalisierung des Individuums und ein philosophisch wie soziologisch fundiertes Plädoyer, das mit scharfem Blick nicht nur die Probleme des Kapitalismus selbst zu eruieren versucht, sondern zugleich hinterfragt, weshalb derlei Probleme überhaupt verwaltet und reproduziert statt tatsächlich reflektiert werden.

Das positivistische Denken des öffentlichen wie elitären Diskurses ist durchdrungen von der Quantifizierbarkeit aller Krisen – qualitative Arbeit an Grundfragen, die sich die nunmehr entfremdeten Individuen innerhalb einer Industriegesellschaft stellen müssten, sei dagegen kaum im Interesse der Verwirklichung und Stabilisierung dauerhaft unfreier Gesellschaften. Die irrationale Rationalität des totalitären Systems, das der 1898 in Berlin geborene jüdische Philosoph und Soziologe, der 1933 in die USA emigrierte, beschreibt, ist eines der Ausgangsargumente der Kritischen Theorie und wurde in der linken Politik ebenso sehr in sozioökonomische Analysen integriert wie in Texten der bedeutendsten Denker der Frankfurter Schule weiter ausgearbeitet. Nicht zuletzt bezog sich die 68er-Bewegung immer wieder auf das Schlagwort der „Großen Verweigerung“, das allerdings nur im letzten Teil des Werks auftaucht. Bereits Lyriker wie Justus Kerner deuteten im 20. Jahrhundert mit dem Anwachsen der Technik in der industriellen Arbeitswelt in ihren Gedichten an, die wachsende Technisierung und Kapitalisierung der Umwelt könnten große Teile der Menschheit zu einem selbstherrlichen Machtrausch verleiten. Das wirtschaftliche Kalkül großer Betriebe degradierte den Arbeiter indes zu einem Faktor im Produktionsprozess, ideologisierte ihn zuweilen sogar als Untermenschen, dessen gesellschaftlicher „Wert“ sich an seiner Rentabilität für den Betrieb und die dazugehörigen Produkte orientierte – ein Zustand, der sich in seinen Grundzügen mit der fortschreitenden Ausbreitung der Großstädte weiter ausgeweitet hat und bis heute in Literatur und Medien kontinuierlich Kritik findet und, wenngleich der Begriff unbeliebt geworden ist, in etwas mündet, das man jahrzehntelang „Entfremdung“ schimpfte.

Bereits bei Rousseau, Schiller und Hegel, spätestens jedoch bei Marx und Nietzsche referiert der Begriff der Entfremdung auf die Abstraktheit menschlicher Lebensbeziehungen und die individuelle oder gesellschaftliche Aufhebung von Selbstverwirklichung. Eignet sich der Mensch Natur an und gestaltet sie geistig und materiell um, indem er als natürlich angenommenen Vorgängen fremdbestimmende, das heißt den Menschen insgesamt beherrschende Institutionen zwischenschaltet, kann das Phänomen der Entfremdung beispielsweise aufgrund der Erfahrung von Totalität eintreten. Sowohl die Vereinzelung des Menschen als auch seine Abgegrenztheit oder aktive Abgrenzung von anderen Menschen, Lebewesen, Tätigkeiten oder Dingen fallen unter diesen Begriff. Wie der Soziologe Joachim Fischer herausstellte, wird in der philosophischen Anthropologie, anders als in der kritischen Theorie, die Entfremdung als konstitutiv für jede menschliche Lebensführung begriffen und, so Arnold Gehlen, die menschliche Haltlosigkeit erst durch Institutionen als stabilisiert eingestuft. Vor allem in Form der Kapitalismuskritik bei Karl Marx, ausgehend von Hegel, findet der Entfremdungsbegriff Verwendung. Entfremdung ist die spezifisch moderne Erfahrung, dass der Mensch sich aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen selbst abhandenkommt. Resonanz mit der natürlichen und sozialen Umwelt ist damit ausgeschlossen. Die Empfindung des eigenen Daseins speist sich nur noch aus dem Urteil der ihn umgebenden Individuen, man ist „außer sich“ und dafür in den Produkten, im Material, in einer Scheinindividualität geborgen.

Warum aber ist es wichtig, das Buch im Herbst 2016 – und immer wieder – zur Hand zu nehmen, nachdem es in Neuauflage bereits 2014 verstärkte Aufmerksamkeit zum 50-jährigen Jubiläum erlangte? Die affirmative, mithin stabilisierende Kraft des eindimensionalen Denkens findet sich mit Blick auf aktuelle politische Ereignisse nahezu überall in den zeitgenössischen Industriegesellschaften. Marcuses Suche nach dem qualitativ Anderen durch Verneinung des Systems greift jedoch tiefer als das, was hierzulande von Kapitalismus- und Systemkritik und Warnungen vor nuklearen Bedrohungen als Graffiti an den Wänden öffentlicher Gebäude noch übriggeblieben ist. Die befreite Gesellschaft, wie auch immer ihre Möglichkeit sich konkret gestalten mag, ist im utopischen Denken Marcuses vernunft- und triebtheoretisch begründet. Der eindimensionale Zeitgenosse des Spätkapitalismus kauft sich, um nur ein Beispiel zu nennen, ein iPhone, in dem bezeichnenderweise das „I“ gleich mitgekauft werden kann, und seine konsumgenerierte Bewusstseinsstimulierung setzt ein. Würde man Marcuse noch einmal zum Leben erwecken und mit diesen heutigen Verhältnissen konfrontieren, würde er sich wohl gleich wieder verabschieden. Nicht nur leben wir immer noch in einer Gesellschaft ohne Opposition, innerhalb derer das Individuum seine Identifikation mit dem System über den Konsum speist. Auch scheint das Bewusstsein über diese Zustände trotz zahlreicher Ausdifferenzierungen der Kritischen Theorie nie bei dem Großteil derer angekommen zu sein, die Industriegesellschaften nun einmal konstituieren, stützen, füttern.

Marcuse verwob die Theorien des Unbewussten mit seinen aus marxistischen Gedanken weiterentwickelten Ideen und wäre, beachtet man seinen zumindest 1964 noch sehr pessimistischen Blick, vielleicht nicht überrascht gewesen, dass die suggestive Kraft eines gesamtgesellschaftlichen Produktapparats unweigerlich dazu geführt hat, dass nun alle ineinanderlaufen, weil alle Aufmerksamkeit der Oberfläche von Smartphones gilt , wo sich die wahren Leben abspielen. Eine Gegnerschaft kennt jemand, der sein Ich im Produkt verkörpert findet, nicht, denn das kapitalistische System ist ihm willkommener Dienstleister bei der Konstruktion einer eindimensionalen Persönlichkeit, die doch längst keine mehr ist.

Marcuse analysierte die sich spiegelnde unbewusste Manipulation des Individuums, der wir uns nicht erst heute, sondern seit Jahrhunderten immer stärker ausgesetzt sehen, auf beeindruckende Weise, präzise und doch ungebändigt. In seiner Beschreibung der Industriegesellschaft ist das revolutionäre Proletariat kein Thema mehr: „Der Kampf um die Lösung ist über die traditionellen Tendenzen hinausgewachsen“, heißt es, und „die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und Wege des Protests unwirksam.“ In Anbetracht dieser Sätze haben die Gedanken des Philosophen heute mehr Aktualität als die erlahmten Ausläufer zeitgenössischer Kapitalismuskritik à la „Team Marcuse“.

Spinnt man seinen Gedanken, totalitär sei nicht nur eine „terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft“, sondern auch eine sich in Bedürfnismanipulation manifestierende „nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung“ weiter, gelangt man schnell vom Produkt zum Konsumenten. Was in der Industriegesellschaft gegenüber Natur und Produkt gilt, trifft ebenso das Ich: Es muss beherrscht werden. In der Zivilisation transformiert sich der Naturzwang in den sozialen Zwang, der nicht weniger repressiv und nivellierend wirkt als jener. Was die Gegenwart von der Zeit unterscheidet, zu der sich die Theorien der Entfremdung und zivilisationskritische Stimmen in Philosophie und Literatur breitmachten, ist nach Alain Ehrenberg eine „Serotonin-Ökonomie“, deren Anfangsstadium bereits in den 1950er-Jahren erkennbar ist: Nicht mehr die menschlichen Züge liegen im Gesicht eines Dienstleisters – vom Obsthändler über den Büroangestellten bis zum Politiker – sondern eine kommerzialisierte Maske, die sich die Schablone spezifischer Umgangsformen zu eigen macht. Identitätsbeschneidung geschieht hier also bereits in der Kategorie des Handelns. Angesprochen ist damit ein nur scheinbar authentisches Verhalten, das aus der Kommerzialisierung menschlicher Gefühle, die kapitalistische Machtstrukturen einfordern, resultiert. Wenn Hillary Clinton ein eingebranntes Dauergrinsen im Gesicht trägt, ist das ein nicht weniger eingängiges Produkt als die aggressive Steigerungspolemik eines Donald Trump. Wie die Wähler bei einem Ausdruck der Form „Make America Great Again“ begeistert aufschreien können, wenn vor über 50 Jahren nicht nur Marcuse seine Stimme gegen ebendiese Fortschrittslogik erhob, bleibt fraglich. Die betäubende Macht der von Marcuse angenommenen Manipulation scheint stärker zu sein als jedes philosophische Plädoyer und jeder Gegenruf der zeitgenössischen Medien. Die Welt ist größer geworden durch Wolkenkratzer und kleiner durch Facebook, die ökonomische Gleichschaltung des Denkens breitet sich weiter aus – ob man das gutheißen möchte oder nicht –, wer seinen Wählern mehr Größe bei gleichzeitig kleineren Gedanken verspricht, wird zum Favoriten, und wer trotz all jener Entwicklungen beständig breit in die Kamera grinst, schafft es ebenfalls in diese Position.

Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur der 50. Geburtstag des Eindimensionalen Menschen zum kritischen Denken anregt, sondern gerade die neue Richtung des Kapitalismus innerhalb aktueller politischer wie gesellschaftlicher Entwicklungen Marcuses Hauptwerk wieder zu einem Reibungspunkt und Prüfstein nur vermeintlich „großer“ Gedanken werden lässt. Ein identitätsstiftender Konsum, wie ihn Marcuse zugleich beobachtete und für die Zukunft weiterhin prognostizierte, und damit einhergehende, fast subtile sexistische und rassistische Entwicklungen im alltäglichen Leben sollten zukünftig nicht mehr nur weiter reflektiert und kritisiert, sondern qualitativ erschlossen werden. Marcuses Studien sind trotz ihrer Prägnanz nur ein Anfang für diese Aufgabe. Plastisch, intelligent und radikal sind die Ausführungen, und in ihrer erschreckenden Aktualität – hoffentlich endlich – ein Weckruf.

Titelbild

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.
Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen.
zu Klampen Verlag, Springe 2014.
296 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866742390

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