Die überfällige Errettung des deutschen ‚Schundfilms‘?

Zur DVD-Reihe „Edition Deutsche Vita“

Von Felix T. GregorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix T. Gregor

Am 28. Februar 1962, einem der bedeutendsten Tage für das deutsche Nachkriegskino in den Augen vieler Filmhistoriker*innen, verkündeten im Rahmen der Oberhausener Kurzfilmtage 26 Filmemacher, dass „Papas Kino“ tot sei und ein neues, innovatives Filmschaffen anstelle der bisherigen Kinoproduktionen in der BRD beginnen müsse. Unterzeichnet von Alexander Kluge, Edgar Reitz, Peter Schamoni und anderen war somit das Oberhausener Manifest geboren, ein in seiner inhaltlich-formalen Beschaffenheit mehr als kurz gehaltenes Programm, das Platz auf einer Din-A4-Seite fand. Es enthielt vor allem den Appell und die Selbstverpflichtung, im jeweils persönlichen Filmschaffen der Unterzeichnenden (ausschließlich Männer, denn Frauen wie Ula Stöckl, Schülerin bei Kluge und Reitz in den 1960er Jahren, fehlen noch völlig, was zumindest für die frühen 1960er Jahre einiges über die Möglichkeiten eines dezidiert feministischen Filmemachens in der BRD aussagt) inhaltlich und strukturell anders zu arbeiten, als es die Filme der 1950er und 1960er Jahre vorgelebt haben. Schwarzwaldmädel (1950), Grün ist die Heide (1951), Im weißen Rößl (vor allem 1952 und nochmals 1960), Freddy, die Gittare und das Meer (1959) und andere Heimat- und Schlagerfilme waren nicht nur Erfolgsfilme und damit Ausdruck eines höchst kommerziellen Filmschaffens. Sie stellten für die Unterzeichner des Oberhausener Manifests auch die Produkte einer Filmindustrie dar, die sich durch den verklärenden Gegenwartsbezug der einzelnen Filmhandlungen strikt gegen die Auseinandersetzung mit den deutschen Gräueltaten während der NS-Zeit sträubte. Lieber wurden eskapistische Heimatfolkloren produziert, so eine heute noch immer gültige populäre Auffassung, die bedenklich schnell in die Bemitleidung und Sehnsucht nach einer eigenen, in der Nachkriegszeit verlorenen Heimat umschlug, die als das Ergebnis der neuen, postfaschistischen Welt zu lesen war. Was in Folge dessen von den sogenannten ‚Oberhausenern‘ und ihren Nachkommen als ein dezidiertes Gegenprogramm geschaffen wurde, waren Filme, die sich umso mehr mit dem alltäglichen Faschismus hinter westdeutschen Rüschenvorhängen und Vorgärten auseinandersetzten. Selten hat dies jemand derart kongenial zur Schau gestellt wie Rainer Werner Fassbinder in seinem Film Satansbraten (1976). In dem Film beginnt ein ehemals linker Autor vor lauter Geldschulden und Frust, sich mit dem Lyriker Stefan George zu identifizieren und sich sein Werk gleich der nationalsozialistischen Ideologie der 1930er und 1940er Jahre anzueignen und damit langsam selbst zu einem grotesk überzogenen Über- bzw. Herrenmenschen zu mutieren – eben weil dies in der BRD der 1970er Jahre größeren (finanziellen) Erfolg zu versprechen scheint als eine politische Gegenhaltung. Dieses alltagskritische Kino bekannter Filmemacher*innen wie Fassbinder, Reitz, Kluge, Fleischmann und anderen verfestigte den Eindruck eines dominanten Filmschaffens in der deutschen Filmgeschichte, das als der ‚Neue Deutsche Film‘ über die Grenzen der BRD hinaus bekannt wurde. In der heutigen, retrospektiven Betrachtung überstrahlt es dabei noch immer und mehr als auffällig alle anderen Produktionen der Zeit. Das gegenwärtige Verständnis vom deutschen Film in den 1960er und 1970er Jahren wird von diesen kommerziell nicht wirklich erfolgreichen Filmen anhaltend geprägt.

Dass es aber auch ein anderes, gemessen allein an den jährlichen Zahlen der Produktionen, weitaus erfolgreicheres Filmschaffen als das des ‚Neuen Deutschen Films‘ gab, rückt erst seit einigen Jahren wieder in den Fokus von sowohl Wissenschaftler*innen (Johannes von Moltkes höchst informative Monographie No Place Like Home: Locations of Heimat in German Cinema sei hier in diesem Kontext nur stellvertretend genannt) als auch der Hochkultur und den Feuilletons. Die oft als Schundfilme verschrienen Krimi- und Actionfilmwerke von Filmemacher*innen wie Rolf Olsen, Jürgen Roland oder Roger Fritz werden nicht nur von heutigen Filmemacher*innen wie Dominik Graf in höchsten Tönen gelobt und wiederentdeckt. Ausgestattet mit einer ordentlichen Portion an Lokalkolorit und Milieubeobachtungen zeigten die Filme zumeist ein prägnanteres und eindringlicheres Bild ihrer städtischen Handlungsorte (in vielen Fällen die Elbmetropole Hamburg mit Schwerpunkt auf der Reeperbahn in St. Pauli), als es in den Werken anderer Regisseur*innen der Fall war. Grafs mit Johannes F. Sievert realisierter Dokumentarfilm Verfluchte Liebe Deutscher Film (2016) versucht entsprechend mit viel Liebe für die vorgenannten Filme und Filmemacher*innen eine Gegenerzählung zum bisher bestimmenden Diskurs über die deutsche Nachkriegsfilmgeschichte zu beschreiben. Was aber bei Graf und Sievert als die Wiederentdeckung einer verloren geglaubten Geschichte des deutschen Mainstreamkinos erscheint, das seine eigene Qualität und Ästhetik besitzt, die es auf gleiche Stufe mit dem ‚Neuen Deutschen Film‘ stellen, wird bereits seit Jahren von einem kleinen DVD-Label betrieben. Die vom DVD-Label „Subkultur“ herausgegebene Reihe „Edition Deutsche Vita“ setzt sich seit 2012 für eben jene Filme ein, die alleine schon narrativ mit ihren Hamburger Geschichten von Kleinkriminellen und der polizeilichen Arbeit der Davidwache nichts mit einer deutschen Filmgeschichte nach Fassbinder und Kluge gemein haben (wollen).

Mittlerweile bei der Reihennummer sechs angekommen, liegen in der „Edition Deutsche Vita“ Filme wie Zinksärge für die Goldjungen (1973; eine für die damalige Zeit nicht seltene Deutsch-Italienische Koproduktion), Fluchtweg St. Pauli (1971), Mädchen: Mit Gewalt (1970) und zuletzt Mädchen Mädchen (1967) vor, die zu einer Wiederbegegnung mit bekannten Schauspieler*innen wie Horst Frank, Klaus Löwitsch, Fritz Wepper und Helga Anders einladen. Trotz der meist geringen (nicht zuletzt da limitierten) DVD-Auflage von 1000 Exemplaren pro Film zeigt sich an jeder Veröffentlichung innerhalb der „Edition Deutsche Vita“ die Mühe, nicht nur reine Wiederveröffentlichungen, sondern cinephile Editionen für die einzelnen Filme herauszubringen. Angesichts der vorgenannten Vergessenheit, die mit der Mehrheit der Werke aus der Reihe einhergeht, sollte der Nutzen einer derartigen Edition für ein nicht nur filminteressiertes, sondern gerade auch filmwissenschaftlich forschendes Publikum nicht gering geschätzt werden. Die einzelnen DVD-Editionen bewegen sich dabei auf gleichem Niveau wie jene Titel, die in den USA durch das Label Criterion innerhalb der eigenen „Criterion Collection“ und in Großbritannien von Eureka Entertainment im Rahmen der „Masters of Cinema“ Reihe herausgegeben werden – und einen festen Platz in den Mediatheken der in- und ausländischen Film- und Medienwissenschaften besitzen. Neben den für solch eine Edition beinahe obligatorischen Booklets mit Essays zu den jeweiligen Filmen finden sich weiterhin verschiedene Audiokommentare, Super-8-Versionen der Filme, internationale Filmfassungen, Bildergalerien mit Aushangfotos, Film-Soundtracks usw. im Bonusmaterial der DVDs.

Ihren Höhepunkt erreicht die Detailliebe von Subkultur für ihre ausgewählten Filmtitel im Rahmen der „Edition Deutsche Vita“ mit der für Jahresende angekündigten Veröffentlichung von Rolf Olsens filmischer RAF-Interpretation Blutiger Freitag (1972). Der Veröffentlichung ist eine Kickstarter-Kampagne vorausgegangen, die um finanzielle Unterstützung für eine geplante, hochauflösende Restauration des Films in 2K bat. Das Ergebnis dieser Unternehmung war für Subkultur, dass anstelle der avisierten 25.000 US-Dollar mehr als 28.000 US-Dollar erzielt wurden und der Film nun u.a. eine 4K Restauration und zahlreiche, eigens für die Veröffentlichung produzierte Interviews mit Beteiligten der Filmproduktion, Dokumentationen und dergleichen erhalten wird.

Angesichts derartiger Mühen eines im Vergleich zu den großen Unternehmen der Filmindustrie wie Sony und Warner wahrlich marginalen und an den Grenzen der Finanzierbarkeit arbeitenden Kleinstlabels scheint die Hoffnung auf eine Rehabilitierung des deutschen Films abseits der kanonisierten Namen (in kleinen Schritten) möglich zu sein. Ob der moralische und filmische Beistand von Dominik Graf für eine Wiederentdeckung und Aufwertung der Filme von Roger Fritz, Jürgen Roland und anderen aus der Zeit des westdeutschen Exploitation-Kinos ausreicht oder gar nötig ist, sei für den Moment hingegen dahingestellt. Letztlich liegt der Erfolg und Misserfolg einer adäquaten und anspruchsvollen Wiederveröffentlichung solcher Filme wie im Rahmen der „Edition Deutsche Vita“ auf Seiten des heutigen Publikums und seines Interesses am deutschen Filmerbe. Eine Fortsetzung derartiger Reihen und damit Rehabilitierung der Filme ist angesichts der unwirklichen Dominanz des ‚Neuen Deutschen Films‘ auf unser gegenwärtiges Verständnis vom westdeutschen Kinoschaffen der 1960er und 1970er Jahre mehr als zu wünschen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen