Quintessenz einer Epoche

Klaus Birnstiel schreibt in „Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ eine Sozialgeschichte des Poststrukturalismus

Von Sebastian SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die divergenten poststrukturalistischen Theorien haben für die deutsche Literaturwissenschaft bis heute etwas Beunruhigendes und Erlösendes zugleich. Einerseits führen sie – semiotisch, philosophisch, psychologisch – jegliche Sinnsuche ad absurdum und zerstören damit jedwede Hoffnung auf eine abgeschlossene Analyse und ein teleologisches Ende des spiralförmigen, hermeneutischen Verstehens. Andererseits machen sie deutlich, dass es fernab der Metaphysik einen Weg gibt, die unfassbare Macht der Sprache zu umgehen, ja sie mit ihren eigenen Mitteln zu überwältigen. Roland Barthes verkündete in diesem Sinne euphorisch:

à nous, qui ne sommes ni des chevaliers de la foi ni des surhommes, il ne reste, si je puis dire, qu’à tricher avec la langue, qu’à tricher la langue. Cette tricherie salutaire, cette esquive, ce leurre magnifique, qui permet d’entendre la langue hors-pouvoir, dans la splendeur d’une révolution permanente du langage, je l’appelle pour ma part: littérature.

Die Glorifizierung der Literatur ist im Rahmen des Poststrukturalismus Programm und lässt einen schmunzeln, dass bis heute ganze Lager der Germanistik den französischen Theorien den Mehrwert absprechen und ihre Vertreter denunzieren. Dabei war der Poststrukturalismus durch seine Einbettung in die Geschehnisse 1968 schon immer eine Frage von Generationen und von der radikalen Suche nach einer neuen und jungen Identität. Unter anderem an diesem Punkt setzt Klaus Birnstiels überarbeitete Münchener Dissertationsschrift an: „Die Geschichte des Poststrukturalismus als Vorgeschichte des Wissens unserer Gegenwart zu schreiben, ist Ziel dieses Unternehmens.“ Dies versucht der Autor, indem er „mit Entschiedenheit“ einen „Historisierungsversuch des poststrukturalistischen Denkens“ unternimmt, der in der Literarisierung der philosophischen Gedankengebäude an der Jahrtausendwende endet. Dabei stellt Birnstiel zu Recht fest, „dass eine auf soliden sozialgeschichtlichen Grundlagen aufruhende Ideengeschichte des Poststrukturalismus als Teil der gesellschaftlichen Konfiguration des postmodernen Zeitalters bisher nicht geschrieben wurde.“

Dieser Tatbestand verwundert wenig, wurde doch im Fahrwasser des Poststrukturalismus einer historischen Métarécit und damit auch dem Gedanken einer (Literatur-)Geschichtsschreibung als Sozialgeschichte abgedankt. Jean-François Lyotard und Kollegen bewiesen, dass die Verankerung von sprachlichen énoncés in der universellen Historiographie nur solange möglich ist, als dass ihr fiktiver Charakter zugunsten einer Pseudorealität ignoriert wird. Der Poststrukturalismus legte nun mit Vorliebe seinen Finger auf diese Wunde aller Geschichtsschreibung als narrativer Fiktion und verabschiedete somit jeglichen teleologischen Wahrheitsanspruch einer übergeordneten und sachlichen Darstellung von Vergangenheit. Zieht man dies in Betracht, gerät Birnstiels Projekt einer sozialgeschichtlichen Literaturgeschichte des französischen Poststrukturalismus zwangsweise in eine Schieflage.

Doch demungeachtet ist Birnstiels Anliegen hehr und Teile seiner Ausführungen sind überaus gewinnbringend. Dank sprachlicher Klarheit und Finesse schafft er es, in knappen Kapiteln Grundideen und bedeutende Texte von Jacques Derrida, Jacques Lacan, Michel Foucault und Konsorten verständlich zu rekapitulieren. Das zweite Kapitel zu Roland Barthes gehört zu den klarsten und überzeugendsten Werk- und Lebensübersichten, die im deutschsprachigen Raum bisher erschienen sind. Doch leider bleibt es zu oft bei einem Parforceritt durch das Œuvre individueller Denker, zusammengestellt aus den wichtigsten Textstellen sowie markanten biographischen Eckdaten.

Dabei ist es überaus enttäuschend und kontraproduktiv, dass die Primärtexte allein im französischen Original zitiert werden. Schon in den Siebzigern beschwerte sich Manfred Frank über die unzumutbaren Übersetzungen, die auf dem deutschen Buchmarkt kursieren, und stellte zugleich berechtigterweise fest, dass die fehlende Bereitschaft, den Poststrukturalismus in die Germanistik zu integrieren, auch der Sprachbarriere geschuldet ist. So wird Birnstiels Band viele Leser vor den Kopf stoßen, da die sehr textnahen Analysen oftmals ohne Verständnis der sprachspielerischen französischen Passagen schlicht und ergreifend nicht verständlich sind.

Die originalsprachliche Zitation ist umso problematischer, als dass die meisten Kapitel in einem absoluten Wissenschaftsvakuum platziert sind. Obgleich sich Formulierungen wie „immer wieder hat die Forschung“ häufen, findet eine wirkliche Auswertung, Abgrenzung und Gegenüberstellung der reichen Sekundärliteratur selten statt. Kapitel, die einzelnen Theoretikern gewidmet sind, arbeiten sich in den sozialgeschichtlichen Parts lediglich an der jeweils führenden Biographie ab und rekapitulieren Daten, Szenen und amüsante Details. Die darauffolgenden interpretativen Seiten kommen fast immer ohne jeglichen Zusatztext aus und attestieren der Dissertation den fragilen Schein einer umfassenden Autorität.

Komplexe Theorien sind durch dieses Vorgehen als bereits abschließend ausgewertet dargestellt, ihre Aussage sei allgemein anerkannt interpretiert und kann bereits ohne Referenz auf Sekundärliteratur wiedergegeben werden. Analog dazu heißt es vielversprechend: „Der Blick auf die steile internationale Karriere des Poststrukturalismus, seinen Niederschlag in den Diskursen zwischen Akademie und Zeitung, Buchmarkt und öffentlicher Debatte […] versteht sich als Vorgeschichte des Denkens unserer Gegenwart.“  Damit attestiert Birnstiel der Schule des Poststrukturalismus einen abgeschlossenen Charakter, sowohl in seiner Konzeption als auch in seiner Rezeption. Der Sozialgeschichte gleich erhalten so die überkomplexen Theoriegebäude ein Siegel der vollzogenen Auswertung ihrer Inhalte, die nun nur noch kontemplativ rezitiert werden muss. Da fragt man sich – polemisch –, warum man als philosophisch interessiertes Individuum mit französischen Sprachkenntnissen nicht direkt die Primärliteratur in die Hand nimmt.

Um einer contradictio in adiecto zu entgehen, sei das zu Beginn der Rezension angeführte Zitat aus der Feder Roland Barthes hier nachträglich übersetzt:

für uns, die wir weder Kämpfer einer Restauration noch Übermenschen sind, bleibt nichts, so darf ich behaupten, als durch die langue zu schummeln, als die langue zu beschummeln. Diese erlösende Schummelei, dieses Ausweichen, dieses großartige Ausweichmanöver, das es erlaubt, die Sprache ohne Herrschaft zu vernehmen, im Glanze einer beständigen Revolution der langage, ich nenne sie für meinen Teil: Literatur.

Analog dazu beginnt Birnstiel seine Dissertation mit einem Kapitel, das literarisches Schreiben interpretativ auswertet, um so den Zugriff auf die poststrukturalistischen Texte zu erleichtern. Diese Herangehensweise, die zugleich dem Charakter und dem Wunsch des literaturglorifizierenden Denkens der Theoretiker Rechnung trägt, verfolgt er bedauerlicherweise im späteren Verlauf nicht weiter. Anstatt an énoncés der deutschen Literaturgeschichte Wege und Grenzen einzelner Theorien anschaulich, greifbar und veritabel zu machen, bleibt die sozialgeschichtliche Historie des französischen Poststrukturalismus in einer problematischen Schwebe zwischen Autorbiographie und textimmanenter Analyse im Duktus der semiotisch verkürzten Nacherzählung stecken. So lässt sich die „kurze Geschichte des Poststrukturalismus“ vielleicht am ehesten als eine erste Orientierung oder ein Nachschlagewerk der philosophischen sechziger und siebziger Jahre in Frankreich fassen. Kenner, Forscher und Menschen ohne die notwendige Sprachkenntnis werden allerdings nur wenig Erleuchtendes in den zahlreichen Einzelkapiteln finden und nach der kreativen wie fruchtbaren Einleitung gegebenenfalls enttäuscht resignieren.

Titelbild

Klaus Birnstiel: Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
491 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770557967

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