Mit philosophischem Ernst ans Spiel

Spielreflexionen seit der Antike und lange vor Kant

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

31 Seiten Einleitung mit Forschungsstand, Fragestellung, methodischen Grundlagen und Struktur der Arbeit sind kein kleiner Happen und von einem spielerischen Einstieg in das Thema kann keine Rede sein, noch viel weniger von seiner spielerischen Entfaltung. Damit ist nichts über die inhaltliche Qualität der Studie ausgesagt. Ihr Anliegen lautet: Vor der Folie des aristotelischen Spieldiskurses geht es um eine Geschichte spielphilosophischer Ansätze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Eine Vielfalt an Perspektiven soll hervortreten, die Philosophierende zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit in Bezug auf Spiel und Spielen entwickelt haben. Sie hätten die von Aristoteles vertretene Erholungsfunktion des Spiels und seine (eigentliche) Unterscheidung zwischen Spiel und Philosophie nicht nur ruminiert und reproduziert. Zwar wären sie alle der (Ur-)Spieltheorie des Aristoteles verpflichtet und stünden im Traditionsstrom einer griechisch-antiken Spiel-Reflexion, doch variierten sie diese im Rahmen einer dynamischen soziokulturellen Aneignung. Gerechtfertigt sei die Untersuchung, weil Philosophie- und Ideengeschichtsschreibung bislang nur wenig Aufmerksamkeit für die mittelalterlichen und rinascimentalen (zur Renaissance gehörig) Spielphilosophien hatten. Ein relevanter Spiel-Begriff wurde erst für die Aufklärung konstatiert, als man einen solchen an Immanuel Kant und Friedrich Schiller festmachte, die bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach der menschlichen Freiheit und dem Wesen des Ästhetischen die Kategorien Spiel und Spielen erstmalig als signifikant hervorgehoben hätten. Folglich sei die Sondierung der langen Jahrhunderte vor der Aufklärung nach spielphilosophischen Äußerungen und vormodernen Spielpraktiken ein Desiderat.

Die Einleitung hat es in sich, weil der Autor minutiös seine methodischen Prämissen erörtert. Um der beobachteten Pluralität und Gleichzeitigkeit verschiedener spielphilosophischer Ansätze Herr zu werden, wolle er „sowohl eine isolierende Behandlung der Mikroebene wie auch die Verdeckung partikularer Diversität unter größeren makrogeschichtlichen Narrativen und Kategorien“ für die Darstellung vermeiden. Damit ist eine Gratwanderung zwischen argumentativer Fein- und Grobkörnigkeit, Prägnanz und Ausführlichkeit angekündigt. Hinzu kommt die genaue Herleitung der benutzten Begriffe ‚Diskurs‘, ‚Habitus‘, ‚philosophischer Text‘ und ‚sozialer Raum‘ von Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Der akademische Pflichtteil gerät schließlich auch deswegen kompliziert, weil Fischer die Ambivalenz, derzufolge philosophische Stimmen am aristotelischen Spielverständnis festhalten und es zugleich verändern, nicht nur erklären, sondern mittels der eigenen Struktur abbilden will. Ist es schon nicht leicht, Spielauffassungen mit gemeinsamer Provenienz untereinander wie gegenüber dem Aristotelischen Ausgangskonzept konzis und schlüssig zu erklären, so erst recht nicht, sie in einer (wie vom Autor intendiert) plurizentrischen, keiner linearen Wiedergabe verpflichteten Darstellungsform zu präsentieren. Das Ergebnis ist ein Hin und Her, Vor und Zurück der Argumentation. Fraglos stellt sie die historischen Bedingungen und Eigenarten der ausgewählten Spiel-Positionen genau vor und versucht sie zu kontextualisieren, doch erzeugen das Vorbringen eines Befunds, seine sofortige Einschränkung und die zahlreichen Vermutungen ob seiner Relevanz oft den Eindruck einer großen Vielmöglichkeit der Zusammenhänge. Die genauen Quellenanalysen, die zu verhältnismäßig wenig eindeutigen, dafür zu umso mehr potentiell möglichen Schlussfolgerungen führen, sind beeindruckend, verlangen vom Leser aber viel Geduld.

Im „Vorspiel“ überschriebenen Auftakt wird die Genese des aristotelischen Spieldiskurses rekonstruiert, der das Fundament für die in den Hauptkapiteln absolvierten Diskussionen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Spielphilosophien bildet. Mit der Nikomachischen Ethik des Stagirits als Kompass lässt sich (besser als anders) beantworten, wie die auf Aristoteles zurückgehende Spielphilosophie im Mittelalter rezipiert und mit welchen anderen Diskursen sie in Zusammenhang gebracht wurde. Wenn die mittelalterlichen Denker Aristoteles’ Spielverständnis scheinbar in die Nähe von Erholung setzen, dann müsse diese Beobachtung unter Vorbehalt stehen: Laut Fischer ist nämlich für die Aristotelische Spielrezeption im lateinischen Westen eine variierende Semantik des Hauptwortes ‚Spiel‘ zu berücksichtigen. Griechisch paida meint nicht exklusiv ludus, das wiederum mehr bedeutet als deutsch Spiel im Sinne von spielerischer Erholung. Die Diskussion zahlreicher Positionen, unter anderem Albertus Magnus und Thomas von Aquin, verdeutliche, dass ludus im 13. Jahrhundert eine Vielzahl heterogener Praktiken beschreibt. Das Bedeutungsspektrum umfasst aleatorische Spieleinsätze in Verbindung mit Geldgewinnen, spielerische Wettkämpfe, die in Habgier und Gewalt eskalieren können ebenso wie ein Spielen als Erfrischung des Geistes (Schule) und für die Aufrechterhaltung der Gesundheit. Der lateinische Aristoteles habe, so Fischer, andere Probleme als der griechische. Ersterer nimmt zum Beispiel Spiel-Konnotationen auf wie die blutigen römischen Spiele, die für den Stagiriten noch gar nicht existierten. Die gegenüber der griechischen Antike veränderte mittelalterliche (Spiel)Realität beeinflusst andersherum die Rezeption der Nikomachischen Ethik in verschiedener Hinsicht.

Im ersten der fünf Hauptkapitel wird mit Nikolaus von Kues ein Denker adressiert, der das konkrete Globusspiel zum Ausgangspunkt von philosophischen Reflektionen macht, die über das Spiel hinausgehen. Das zweite Kapitel springt in die italienische Renaissance. In den Hofgesellschaften wird ein ludisches Philosophieren praktiziert, das es ermöglicht, außeruniversitär gelehrte Konversation zu betreiben. Dabei tritt auch eine unterbelichtete Facette der Philosophie ans Licht, die sich als Zweiseitigkeit zeigt: hier eine ernsthafte Praxis des Bemühens um Wissen und Verständnis, dort ein qua Spiel aufgelockertes Diskutieren um verschiedene Aspekte. Im dritten Kapitel wird der Weg über die Alpen zurück nach Norden angetreten, zu den humanistischen Philosophen und deren spielphilosophischen Ansätzen. Erasmus von Rotterdam und andere akzentuieren etwa die Bedeutung des Spiels in der Pädagogik. So könne Kindern durch eine spielerische Vermittlung das Lernen erleichtert werden und eine spielerische imaginatio könne verhindern, dass die Beschwerlichkeit des Lernens den Lernprozess unterminiere. Kapitel vier richtet das Augenmerk auf italienische Traktate über das Tennis-Ballspiel. In den Ausführungen insbesondere eines im Kontext des ferraresischen Hofs stehenden Textes wird ein Nexus zwischen höfischem Vergnügen, sportlicher Betätigung, wettkämpferischem Leistungsvergleich und naturphilosophischer Theorie sichtbar. Das Ballspiel ermöglicht ein quasi-öffentliches Nachdenken über höfischen Ernst und Unernst, Dignität und Ridikülität, es bietet sich an für eine physikalische und zoologische Tennisstrukturierung. Das letzte Kapitel zeigt anhand einer Schrift von 1560, wie im Rahmen spielphilosophischer Überlegungen auch die krankhafte Seite ludischer Praktiken reflektiert wird: Spielbezügliche Phänomene wie Begierde, Sucht und Befriedigung treten auf den Plan. Dem erholsamen Gebrauch von Spielen, wie er an Aristoteles festgemacht wird, tritt ein pathologischer Zug spielerischer Verwicklung zur Seite.

Andreas Hermann Fischers Dissertation ist das Ergebnis einer akribischen Auseinandersetzung. Sie bestätigt den kulturkonstitutiven Charakter von Spiel und Spielen als vielerlei Erkenntnis generierendes Agieren. Die untersuchten Quellen konturieren Spiel als Integral von Räsonieren, Spekulieren, Ausprobieren, von Körperlichkeit, Pädagogik und Kindlichkeit. Wenn das partikulare, weil einzelquellenabhängige Ergebnisse sind, so kann mindestens eine allgemeingültige, zugleich aber widersprüchliche Beobachtung festgehalten werden: Mindestens seit Beginn der Rezeption der Nikomachischen Ethik ist das Spielen als notwendige, aber grundlegend verschiedene Gegenpraxis des Philosophierens in der nachantiken Philosophiegeschichte präsent. Allerdings ermöglichten ausgerechnet philosophische Thematisierungen des Spielens Neuinterpretationen der Philosophie selbst. So wurde das philosophische Nachdenken a) um einen ludischen Modus (Vermittlung von Moralphilosophie angesichts der Herausforderungen kindlichen Lernens), b) um ludische Gegenstände (Ballspiel) und c) um neue Mit-Spieler (Kinder) erweitert. Fischers modus operandi ist alt- und fremdsprachgesättigt (griechisch, lateinisch, italienisch), methodisch exakt, ungemein belesen und vielwissend; der Autor taucht gewissenhaft in die lexikalischen und argumentativen Tiefen der Quellen, er lässt sich nicht von den Herausforderungen einer historischen Begriffssemantik einschüchtern und macht nicht halt vor den vielen nuancenreichen Widersprüchen, die ihm seine historischen Stimmen entgegentragen. Fischer reicht dem herausgeforderten Leser mehrmals die Hand, indem er beispielsweise nach jedem Einzelkapitel Konklusionen anbietet, um die oft schlicht nicht eindeutig zu formulierenden Befunde so gut es geht zusammenzufassen, zu systematisieren und den Nexus zum nachfolgenden Kapitel herzustellen. Das verweist zugleich auf ein Problem der Arbeit: So wissenschaftlich das Buch, so anspruchsvoll seine Aneignung. Es handelt sich um das Werk eines Spezialisten für Spezialisten. Nur wer sich brennend für die Evolution des spielphilosophischen Diskurses in seinen mannigfachen Verästelungen interessiert, wird die souveräne, aber in Vermutungen und Einschränkungen mäanderende Untersuchung in Gänze durchmessen und die Mühe der Lektüre nicht scheuen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andreas Hermann Fischer: Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016.
336 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783525230145

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