Mehr/Meer sehen als einen Dokumentarfilm über Derrida

In Jaques Derridas und Safaah Fathys Buch „Worte drehen. Am Rande eines Films” werden die Hintergründe und Ansätze des Films „Derrida, anderswo“ erzählt, erklärt und diskutiert

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine filmische Dokumentation über einen Philosophen ist eigentlich unmöglich. Folglich behauptet Jacques Derrida, dass er und auch die Autorin Safaa Fathy den Film Derrida anderswo, den sie gedreht haben, niemals gesehen haben. Und zugleich – und darin liegt die Aporie – hat er sich mit ihrem Film am Ende versöhnt. Ein Film, in dem häufig Treppen und Leitern sowie Derrida beim Aufstieg gezeigt werden. Ein Film, in dem er die Bibliothek auf dem Dachboden seines Hauses zeigt und sie sein Sublimes und auch Erhabenes nennt. Was könnte philosophischer sein als eine solche Demonstration? Und dennoch oder gerade deswegen gibt es zwei filmische Dokumentationen mit und über Derrida, die beide in der letzten Periode seines Lebens entstanden sind. Die Gründe dafür sind naheliegend. Der jüdische, algerische und französische Philosoph wusste, dass dies seinem Denken eine größere Chance geben würde, zu überleben Und Derrida wäre eben auch nicht Derrida, wenn er dafür nur eine Stimme geltend gemacht hätte. Es mussten also mindestens zwei Dokumentationen sein. Die erste kommt aus Ägypten, die zweite aus den USA.

Man wird nicht fehlgehen, wenn man behauptet, dass viele Elemente, die von Derrida an der ersten Dokumentation kritisiert wurden, in der zweiten korrigiert worden sind. Ohne behaupten zu wollen, der zweite Versuch sei gelungener, lässt sich zumindest festhalten, dass er lebensnäher ist. Derrida wird hier weniger stilisiert gezeigt, aber über ihn wird weniger philosophiert. Der Film zeigt seinen Alltag, wie er asiatische Krabbenchips isst oder sich am Morgen Honig auf seinen Toast schmiert. Er wird oft zusammen mit seiner Ehefrau Margerite Derrida und Freunden gezeigt, sein soziales Umfeld bekommt eine ganz andere und viel wichtigere Position. Und er lacht auch öfter über das, was er zuvor ganz ernst gesagt hat. Letztendlich ergänzen sich die beide Filme gegenseitig und zeigen, dass es den einen unverwechselbaren Derrida nie gegeben hat, sondern es viele sind, die aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.

Zu beiden Dokumentationen ist jeweils ein Buch erschienen. Der für Derridas medienorientierte Schriften zuständige Verlag hat nun das Buch zu der ersten Dokumentation Derrida, anderswo (1999) auf Deutsch veröffentlicht. Die Autorin Safaa Fathy und Derrida haben es gemeinsam verfasst. Ihre Dokumentation ist schon vor einigen Jahren in Deutschland bei Suhrkamp herausgekommen (mit einem ebenfalls durchaus spannenden Beiheft).

Das Buch zu der zweiten Dokumentation Derrida (2002) hingegen – sie stammt von dem amerikanischen Regisseur Kirby Dick und seiner Kollegin Amy Ziering – ist bisher ausschließlich auf Englisch erschienen. Die erste Dokumentation und damit auch das zugehörige Buch ähneln – wenn man es psychoanalytisch betrachtet – strukturell einem Gespräch des Philosophen mit seiner Mutter, deren Sterben und nicht Nicht-Sterben als ein wichtiges Ereignis dargestellt werden. Die zweite Dokumentation von Kirby und Ziering handelt von einem Gespräch mit dem Vater. Derrida erklärt, dass er keine Philosophin als Mutter haben könne, da die Philosophie (bis zu ihm) grundsätzlich patriarchal codiert sei. Die Gespräche mit der Mutter sind länger, trauriger und tiefer, die mit dem Vater politischer, vitaler und eingebettet in eine Infrastruktur. Kirby und Ziering zeigen vielmehr die öffentliche Person Derrida, während Fathy auf der Spurensuche in sein Inneres ist.

Unübersehbar ist in der zweiten Dokumentation die immer wieder auftretende Verweigerungshaltung des Philosophen. Es gibt viele Themen, über die er zunächst gar nicht sprechen möchte, und manche, über die er tatsächlich nur sehr wenige, oberflächliche und faktische Dinge sagt. Derrida führt stattdessen eine intensive mediale Diskussion, welche die Künstlichkeit und Gestelltheit der angeblich dokumentarischen Situationen immer wieder vor der Kamera offenlegt. Er macht keinen Hehl daraus, dass all diese Drehsituationen nicht einfach eine Realität abbilden, keine einfachen Repräsentationen seines Lebens sind, sondern dass die Situationen allein schon durch die Filmkamera unnatürlich sind. Häufig verweigert er die Antwort und schweigt. Die erste Dokumentation füllen zwar anfangs auch einige Bemerkungen dieser Art, dann sind es jedoch nur noch die direkt in die Kamera gerichteten forschen und kritischen Blicke, die Derridas Skepsis unterstreichen. Er möchte seine Geheimnisse, von denen er auch hier oft spricht, nicht offenlegen. „ ‚Das Geheimnis muss respektiert werden‘ wiederholt improvisierend der Akteur, der selbst daraus ein wenig sentenziös, eine Ethik und ein Prinzip ‚politischen‘ Widerstands gegen den Totalitarismus macht“, schreibt Fathy dazu. Spätestens seit Derridas zweibändigem Werk Die Postkarte (1980), in dem er im ersten Teil nach einem nicht mehr nachvollziehbaren Prinzip in unbestimmten Abständen jeweils 52 Zeichen einfach verschwinden ließ, weiß man, wie sehr sich dieser Philosoph als der Hüter eines Geheimnisses betrachtet.

Derrida erklärt im Buch und im Film seine Faszination dafür, ein Marrane zu sein also ein iberischer Jude, der unter Zwang zum Christentum bekehrt wurde und seine Religion weiter im Geheimen ausübt. Es geht ihm dabei aber nicht nur um das Judentum, sondern um eine doppelte religiöse Identität, die zum Teil verborgen bleiben muss. Im Film spricht er davon, ein Meta-Marrane zu sein, ein universeller Marrrane ohne Papiere, der seine jüdisch-spanische Herkunft abgestreift habe und ein Geheimnis bewahre, das über ihn hinausgehe, vergleichbar mit dem Unbewussten. „Der Marrane ist ein Gespenst, das ich liebe, eine geheime Signatur, da er etwas über das Geheimnis erzählt“, zitiert ihn Fathy im Buch, an einer Stelle, die nicht im Film enthalten ist. Sie sieht die Herkunft seiner Affinität für das Geheimnis auch in einer arabischen Tradition, in der die Entblößung streng geahndet wird. Am Ende seines Aufsatzes in dem Buch Worte drehen erklärt Derrida, dass er sich vor der Filmkamera etwa so vorgekommen sei wie nackt vor einer Katze – ein Bild aus seiner Tierphilosophie.

Im Film sind es gleich zu Beginn die Fische, mit denen er sich vergleicht. Eingesperrt in ein Aquarium werden sie hinter Glas von einem staunenden Publikum betrachtet. Derrida wollte theatrale Auftritte, alle Arten von Sensationen und alles Spektakuläre aus diesem Film entfernt wissen, wie bei Fathy zu lesen ist. Außerdem sollte seine Interviewpartnerin mit im Bild sein, sodass die Dialogform nicht nur angedeutet, sondern vollständig zu sehen ist. Es sollten primär Großaufnahmen von seinem Gesicht gemacht werden – eine Einstellung, die sich in Fathys Film nur einmalig findet, genau wie die anderen Wünsche jedoch in der amerikanischen Version umgesetzt werden.

In Worte drehen wird gleich zu Beginn deutlich, dass der Philosoph mit Fathys Film keineswegs einverstanden war, wenn er die Dreharbeiten mit einem Verbrechen gleichsetzt. Nie habe er sich so passiv und ausgeliefert gefühlt. Er trennt den Akteur des Films von sich ab und erklärt, dass er stets krankhaft allergisch gegen Bilder und Töne von sich selbst gewesen sei. „Derrida fühlte sich seines Bildes beraubt“, schrieb die Autorin. Dennoch habe er dieser ‚Maschine‘, durch die er sich von sich selbst trennt und dabei sich selbst verrät und vorführt, zugestimmt. Er glaube nicht an das Genre des Dokumentarfilms, das er Dokumentar-Fiktion nennt, um den Charakter dessen, was der Zuschauer zu sehen bekommt, präziser zu bestimmen. Beispielweise verwischt die Filmemacherin mit Absicht die verschiedenen Drehorte und lässt sie miteinander verschmelzen. Nach Derrida erkenne der Film diese Orte nicht an.

Beide Filme inszenieren durch ihre Selektivität allein das dokumentarische Material. Derrida erklärt: „In dem, was Sie fallen lassen, ungefähr 99% vom Ganzen, gäbe es, in Reserve, eine unbestimmte Anzahl weiterer möglicher Filme und weiter virtueller Figuren/kleinere Rollen und weiterer entworfener Profile“. Profile hieß die Reihe, in der Derrida, anderswo auf Arte gezeigt wurde. An einer Stelle nennt Derrida jene Lieblingssequenzen, die in dem Film leider nicht (mehr) enthalten sind. Es handelt sich um eine hohe Anzahl beachtlicher Szenen, von denen man nur hoffen kann, dass sie eines Tages veröffentlicht werden. Die Autorin hätte also noch einige Doku-Fiktionen über ihn herstellen können die jeweils ein anders Profil zeigen würden. Und sie ist, so Derrida, die erste, die das weiß. „Sie hat das Genie oder die Kraft, das in ihrem Film jeden Augenblick zu zeigen. Das ist die ganz potentielle Energie des Werkes“.

Fathy ist eine ägyptische Poetin, die selbst schreibt: Sie spricht zuhause in Paris Englisch. Wegen ihres schottischen Ehemanns, in ihrer eigenen Dichtung bleibt sie ihrer Muttersprache, dem Arabischen, treu. Sie ist ebenso kosmopolitisch wie Derrida und wusste die Spektralität, den demokratischen Raum, den seine Philosophie eröffnet, sowohl filmisch genau in Szene zu setzen als auch in ihrem Buch zu beschreiben. Derrida und sie sind sich demnach nahe, so nahe, dass die beiden sich während der Dreharbeiten fast immer stritten; allerdings nicht um den Film. Zwischen ihnen gibt es zugleich einen wesentlichen Unterschied: „Derrida ist jüdisch, ich bin Muslimin“, erklärt Fathy. Beide beschreiben, wenn auch sehr unterschiedlich, die Wutausbrüche des Philosophen während der Dreharbeiten. Es war sicherlich nicht einfach. Und dennoch erklärt Derrida an einer Stelle, er denke trotz der Konflikte gern an die Dreharbeiten zurück. Fathy teilt und versteht seine melancholischen Züge. Sie ist interessiert an einer Philosophie, ihrer Ansicht die einzige, die aus der Geschlechterdifferenz eine grundlegende Figur ihres Denkens gemacht hat. „Die Frage der Frau oder der sexuellen Differenzen, präzisierte Derrida, war die ihn seit seinen Anfängen bewegende Frage, die es ihm ermöglichte, in die Vorstellung seiner Philosophie eintreten zu können“, zitiert sie eine ebenfalls herausgeschnittene Stelle aus ihren Gesprächen. Im Film erklärt er, dass die demokratische Vielstimmigkeit immer auch das Zulassen von Stimmen der verschiedenen Geschlechter ist. Die Repression der Frau hinge damit zusammen, aus diesen vielen Stimmen eine einzige werden zu lassen. Poesie und Philosophie gehen hier ein enges Bündnis ein. Immer wieder lässt Fathy seine Worte demnach auch ganz bewusst in der Brandung eines Meeres verschwinden. Und es ist egal, wo dieses ‚Meer‘ liegt, dass das ‚mehr‘ des überbordenden Sinns andeutet, der aus dem Gesagten heraussprudelt. Und Fathy hat Derridas schwierige Autobiografie Zirkumfession, wenn es denn eine gewesen ist, sehr gründlich gelesen. So genau, dass sie im Film daraus liest und von ihm daraus lesen lässt. So gründlich, dass sie im Buch erklärt, dies sei die Grundlage für ihren Film gewesen. Und Derrida hat dieses Buch geschrieben, während er eine Totenwache, einen wake bei seiner Mutter hielt.

Sie beginnt ihren Bericht von den Dreharbeiten mit vielen Bemerkungen über den ‚Fremden‘. Das Algerien, das sie mit ihrem Filmteam im Dezember 1998 ohne Derrida bereist, ist ein totalitärer Staat, der sie an die DDR erinnert. Sie dreht, eskortiert vom Militär, unter ungewöhnlichen Umständen. Er ist mit viel einfacheren Mitteln gedreht als die zweite Dokumentation.

Bei Kirby und Ziering gibt es, anders als zuvor, kein einziges Bild aus Algerien, dafür aber einen Besuch von Derrida und seiner Ehefrau in Südafrika, bei dem er die Zelle, in der Nelson Mandela 18 Jahre seines Lebens verbracht hat, besichtigt. Der Film ist so montiert, dass der Eindruck suggeriert wird, Derrida wandle selbst durch seine Heimat. Die Aufnahmen in Kalifornien hingegen passten weniger gut in ihren Film (abgesehen von denen, wo Derrida allein spricht, weil diese Bilder keinen Ort haben). In den USA werde eine andere, klarere Sprache gesprochen, die nicht zu ihrem Konzept eines „anderswo“ gehöre. Daher blieben Interviews mit Hillis Miller und Geoffrey Bennington, aber auch eine Diskussion mit Freunden über das Geheimnis, die hier gedreht wurde, außen vor. Sie lagen in einem Außen, „das nicht zersplittert“, erklärt Fathy im Buch.

Das anderswo, das sie herausarbeitet hat, liegt in Algerien. Doch alle Bilder aus diesem Land werden in leichter Zeitlupe vorgeführt und viele sind ausgebleicht, alles etwas unscharf, so als handle es sich um altes Material. Doch über diesen Kunstgriff schreibt sie nichts. Sie stützt ihre Bildvorstellungen oft mit der Filmphilosophie von Gilles Deleuze ab. Ihr Bericht enthält auch viele Anspielungen auf Derridas Philosophie, die sie allerdings für ihre eigene Sicht verwendet. Sie hat bei ihm studiert, sie war seine Schülerin und tritt nun in einen Diskurs mit ihm, modifiziert seine Ideen, eignet sie sich an und integriert sie in ihre Perspektive. Dabei wird sie ihm aber stets sehr gerecht. Und das Buch beschreibt ihre Haltung, stellt ihre Perspektive viel deutlicher dar als ihr Film. „Ich bin nur Material für ihre Schrift“ erklärt Derrida am Anfang der Dokumentation und Fathy ist es, die das zitiert und weiß. Das Buch, das sie am Rande ihres Films gemeinsam mit Derrida verfasst hat, ist demnach insgesamt so etwas wie ein etwas vertracktes, wohlwollendes, philosophisches, literarisches und filmtechnisches Making off geworden und daher auf verschiedenen Ebenen sehr spannend. „Wie kann man Worte drehen?“ lautet seine Ausgangsfrage. Damit ist sowohl gemeint, die Worte abzuwägen, als auch sie der Kamera auszusetzen.

Schon das Coverbild des Buches ist präzise ausgewählt. Es zeigt algerische Kascheln, von denen eine falsch eingesetzt wurde – ein Bild aus Derridas Kindheit. Es stammt aus seinem Elternhaus in El Biar, einem Vorort von Algier. Diese asymmetrische Fliese ist eine Metapher für eine mögliche Innovation seiner Dekonstruktionsarbeit. Derrida philosophiert über diese Fliese, die im Flur lag und über die er täglich Schritt, in dem Buch allein sieben Seiten lang. Im Film werden diese Kacheln nur völlig unkommentiert kurz eingeblendet. Das Design des Buches hat insgesamt etwas Arabisches und genau darum geht es:
Der französische Originaltext erschien nämlich schon 2000. Diese Verzögerung von immerhin sechzehn Jahren zeigt schon, dass diesem Buch lange Zeit kein besonderer Wert beigemessen wurde. Derridas Philosophie und explizit seine Thesen zur Gastfreundschaft, die schon eines der Grundthemen in Derrida, anderswo bildeten, lassen seinen Ansatz angesichts der Flüchtlingswelle auf Europa aktueller denn je erscheinen. Derrida ist dabei auch und gerade als Person eine Vermittlungsfigur zwischen dem Nahen Osten und Europa. Wie schon im Film erwähnt, durchzieht die Geschichte der französischen Kolonisation beziehungsweise Postkolonisation seine Biografie wie auch seine gesamte Philosophie, die immer wieder vom Anderen handelt. Das Buch nimmt gerade diesen Faden stark auf und ergänzt ihn. Es unter Berücksichtigung beider Dokumentationen zu lesen ist daher heute wichtiger, spannender und aktueller denn je.

Titelbild

Jacques Derrida / Safaa Fathy: Worte drehen. Am Rand eines Films.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2016.
165 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940048257

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