Das große Schweben
Jon Fosses „Trilogie“: Eine düstere Herbergssuche in Norwegen belegt die Rückkehr des Existenzialismus in die Gegenwartsliteratur
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWie wäre die Weihnachtsgeschichte eigentlich weitergegangen, hätten Maria und Josef damals in Betlehem nicht wenigstens einen Stall gefunden? Nicht gut, vermutlich. Aber wie genau? Eine Möglichkeit: Josef hätte seiner hochschwangeren Frau die überlebenswichtige, verweigerte Unterkunft am Ende mit Gewalt besorgt. Wäre irgendwo in ein Haus eingedrungen, hätte dazu vielleicht sogar jemanden töten müssen. Nach der alten Regel: Not kennt kein Gebot. Aber gäbe es dann überhaupt eine „Weihnachtsgeschichte“?
Nicht durch Betlehem, sondern durch das kalte, regennasse Bjørgvin, einem norwegischen Küstenort, schleppen sich Alida und Asle; zwei Bündel und Asles Fiedel sind all ihre Habe. Beide sind 17, beide haben ihre Väter ans Meer verloren – und beide haben, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, zu diesem Zeitpunkt schon eine unwiderrufliche Grenze überschritten: In Dylgja, ihrem Heimatort, aus dem sie mit einem Boot geflohen sind, hat Asle erst dessen Besitzer ermordet und dann noch Alidas Mutter, die ihre ungeliebte schwangere Tochter gar nicht rasch genug loswerden konnte, zum Schweigen gebracht.
Auch in Bjørgvin will niemand den Unverheirateten helfen. Eine mitleidlose, scheinheilige Gesellschaft, die sich mit ihren unmoralischen Angeboten selbst entlarvt: Eine junge Frau würde den hübschen Asle allein durchaus hereinbitten („nein ist das möglich, so ein stattlicher Bursche und dann so eine kleine Schlampe“) und ein Wirt zumindest die Schwangere. Doch lässt sein Gesichtsausdruck Alida nichts Gutes ahnen. Am Ende dringt das Paar in das Haus einer alten, sich besonders hartherzig äußernden Frau ein; später sieht die restlos erschöpfte Alida, endlich im warmen Bett, wo sie hingehört, wie Asle etwas mit einem Karren wegfährt.
Es ist eine ebenso verstörende wie eindrucksvolle Erzählung über Liebe und Schuld, die der Norweger Jon Fosse bereits 2008 unter dem Titel Andvake (dt. Schlaflos) veröffentlichte. Es folgten zwei nicht minder düstere Fortsetzungen, Olavs Träume und Abendmattigkeit, die zeigen, wie wenig die Hoffnung auf Neuanfang gegen die Macht der Vergangenheit auszurichten vermag: Asle muss sich, so sehr er auch ihre Spuren zu verwischen sucht, am Ende doch noch für seine Taten verantworten, und Alida, mit ihrem Kind auf sich gestellt, findet bei einem auch nicht gerade uneigennützigen, aber doch mitfühlenden Fischer Unterschlupf und ein neues Leben – aber die Erinnerung an Asle wird sie nie wieder loslassen. Unter dem Titel Trilogie sind diese Texte nun bei Rowohlt auf Deutsch erschienen, zusammen mit zwei Taschenbuchbänden mit frühen Stücken (Ich bin der Wind und Die Nacht singt ihre Lieder) des weltberühmten 56-jährigen Dramatikers und, seit 2013, konvertierten Katholiken.
Fosse hatte, wie er in Interviews erklärte, der Protestantismus seiner Heimat mit seiner Redseligkeit jene schöpferische Mystik aus der Welt vertrieben, aus der heraus die Werke des Norwegers entstehen: „Für mich bedeutet Dichten in die Stille hineinhorchen.“ Apropos: Dass Jon Fosse der literarische Lehrer ausgerechnet Karl Ove Knausgårds war, mag man kaum glauben – so groß ist der Gegensatz zwischen Fosses von maximaler Reduktion und Konzentration geprägter Sprache und den ausufernden Werken seines Schülers.
Mit seinem schmalen Motivarsenal um Liebe, Geburt und Tod und seinen archetypischen, von abgrundtiefer Traurigkeit beherrschten Figuren wie See- und Spielmänner gilt Fosse als der große Unzeitgemäße und Antimodernist der Gegenwartsliteratur. Ein Missverständnis, wie nicht nur ein Blick auf seine avancierten literarischen Mittel zeigt – in Trilogie das raffinierte Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart oder dem Gegensatz von lebendig und tot bis hin zu einer Art Geistergeschichte in der Schlusserzählung. Nicht zu vergessen die alternierenden Figurenperspektiven und eine hypnotisch-eindringliche Prosa mit labyrinthischen, gleichwohl musikalisch-rhythmischen Satzkonstruktionen, die die Ausweglosigkeit der durch Bjørgvin taumelnden Protagonisten widerspiegeln.
Auch muss man nur an die Flüchtlingskrise denken, um zu wissen, dass Jon Fosses Werke weniger unzeitgemäß als vielmehr zeitlos sind. In Wahrheit feiert mit dem Norweger der Existenzialismus seine überfällige Rückkehr in unsere post-postmoderne Gegenwartsliteratur. Aber nicht der französische, sich am „Absurden“ abarbeitende, sondern eher der deutscher Prägung: Geht es doch bei Fosse, mit dem Existenzphilosophen Karl Jaspers gesprochen, ein ums andere Mal um Grenzsituationen wie die Unausweichlichkeit von Schuld, um die immer nur ausnahmsweise gelingende Kommunikation und nicht zuletzt um Chiffren einer auch für Atheisten anschlussfähigen Transzendenz wie das stets verheißungsvoll wogende Meer, dem Alida sich zuletzt hingibt.
Oder wie die Musik, die sie und Asle, den Sohn eines Spielmanns, überhaupt erst zusammengebracht hat:
und dann findet er die Stelle, wo das Spiel auffliegt, und dann schwebt das Spiel, ja ja ja es schwebt ja und jetzt braucht er nicht mehr draufloszufiedeln, jetzt schwebt das Spiel ja ganz von selbst auf und davon und spielt seine eigene Welt und alle, die Ohren haben, die können es hören und Asle blickt auf und er sieht sie da stehen, sie steht da, er sieht Alida da stehen […] und sie hört es. Sie hört das Schweben und sie ist im Schweben.
Alle die Ohren haben, können es hören, das große Schweben: 2015 wurde Trilogie mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates, der wichtigsten Auszeichnung der skandinavischen Länder, prämiert – ein Zeichen dafür, dass sich an Jon Fosses Status als Daueranwärter auf den Literaturnobelpreis bald etwas ändern dürfte. Gut so!
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