Über die Sinnlichkeit des Denkens
Gisela von Wysocki schreibt in ihrem zweiten Roman „Wiesengrund“ über das Faszinosum Adorno
Von Julia Lind
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer mit seinen dunklen Augen so eindringlich blickende Theodor W. Adorno, dessen „Minima Moralia“ einen ganz neuen Ton im Nachkriegsdeutschland anstimmte und der das Frankfurter Institut für Sozialforschung nachhaltig prägte, ist heute kaum von den Bildern der 68er-Studentenrevolte und deren Systemkritik loszulösen. Tatsächlich hat Adorno mit seinen Überlegungen zum richtigen Leben, seiner Kritik am Leben im Kapitalismus, in berühmten Sätzen wie „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ein neues Bewusstsein für gesellschaftliche Strukturen geschaffen und so auch zu Widerstand aufgerufen. Ausgehend von der Zäsur Auschwitz fragt Adorno nach den Bedingungen des Mensch-Seins und stellt der Kälte der Systeme – Staatssystemen, ideologischen und wirtschaftlichen Systemen – die Wärme des nicht zweckgebundenen Denkens und Lebens entgegen.
Es ist besonders diese „warme“ Seite des Nicht-Zweckgebundenen, der Kontemplation, des Fantasierens und Schwebens, die Wysocki in ihrem Roman hervorhebt. Obgleich sich der Roman im zeitgeschichtlichen Kontext der 1960er-Jahre bewegt, bilden die politischen Proteste, die Bildung von Arbeitsgruppen und Endlos-Diskussionen vielmehr den Hintergrund des Buchs. Vor dieser Folie erzählt Wysocki die Geschichte der jungen Studentin Hannah, die schon als Schülerin begonnen hat, eine Faszination für die Romanfigur Wiesengrund alias Adorno zu entwickeln und später als Studentin am Frankfurter Institut vollkommen von seiner Person eingenommen ist. Mit den Augen dieser feinfühligen und gleichzeitig spöttischen jungen Frau blickt der Leser auf die Romanfigur Wiesengrund und nimmt den „Mann mit Hut“ in all seinen Eigentümlichkeiten und persönlichen Eigenschaften wahr, wobei Zwischenmenschliches wie Stimme, Diktion, Gesten und Bewegungen hervorgehoben werden.
Es ist eine sukzessive, von Hindernissen bestimmte Annäherung. Entgegen dem Verbot des Vaters lauscht die Schülerin den Nachtsendungen im Radio, wo sie das erste Mal Wiesengrunds Stimme hört, die sie nicht vergessen kann und von der sie sich auf sonderbare Weise angezogen fühlt. In der Hoffnung wieder dieser Stimme zu begegnen, führt sie die beschwerliche Prozedur des „Unter der Decke-Hörens“ fort, welche sie voller Selbstironie beschreibt: „Was ich gut gebrauchen könnte, wäre ein Sauerstoffgerät. Keine Ahnung, wie man so etwas handhabt und wie viel es kosten würde. Natürlich denke ich dabei an die namenlos gebliebene Radiostimme, ich würde ihr gerne einmal ungestört zuhören.“
Heimlichkeit, Vertrautheit und Aufbegehren sind die Gefühlsketten, die sich im Roman um den Namen Wiesengrund aufbauen. Detektivisch nimmt die Protagonistin die Fährte zu diesem Unbekannten auf, achtet auf alles, was mit diesem Namen zusammenhängt und imaginiert um die Fundstücke, wie einem Foto des ominösen Instituts für Sozialforschung, Bilder zu dem Leben des Professors.
Als die Schülerin endlich ihr Studium in Frankfurt beginnt, wird dieses „intime Verhältnis“ zwischen Hörerin und Sprecher fast bruchlos im Hörsaal weitergeführt: Der monologisierende Redner Wiesengrund und die gespannt lauschenden Studierenden – in dieser Konstellation der Ehrfurcht lernt Hannah Wiesengrund persönlich kennen. Die ersten Begegnungen sind für sie Inseln des Aufruhrs in einem eher tristen Studentenalltag. Hier klingen die autobiografischen Erfahrungen der Autorin an, hat Wysocki doch selbst bei Adorno Philosophie studiert und promoviert. Seine geistige Anziehungskraft ist dabei eng verzahnt mit der privaten Person, welche die Ich-Erzählerin sehr verehrt, wenn sie an sein „an Mond und Ferne erinnerndes Gesicht“ denkt.
Seinerseits wird auch Wiesengrund auf die junge Studentin aufmerksam: Gemeinsame Gespräche und Ausflüge – etwa ein Besuch im Zoo oder die Einladung auf einen Kakao – bilden wichtige Momente in Hannahs Geschichte. Die Bilder dieser Begegnungen brennen sich in ihr Gedächtnis ein und werden im Roman wie in einem Film festgehalten: „Eine Terrasse, wenig Gäste und viel Weiß. Die Schirme, die Servietten, die gestärkten Hemden der männlichen Bedienung. Einer der Gäste hat seinen hellen Strohhut auf der Tischplatte abgelegt und zum Ober gesagt: ‚Für die Dame einen Eistee, für mich eine Schokolade.‘“
Die kleine Szene ist exemplarisch für Wysockis Erzählweise, welche sich auf Begegnungen, Wahrnehmungen und die Welt des „Dazwischen“ fokussiert: Das Flüchtige, der Klang der Worte und die kleinen Dinge des Alltags werden zu Szenen verdichtet. Das bisweilen hohe Tempo der Erzählung gibt dem Roman eine spezielle Leichtigkeit, die an das Medium Radio erinnert. Der Erzählton ist dabei trotz der Hingabe zu Wiesengrund von Sachlichkeit und Ironie durchzogen.
Am stärksten sind die Passagen, in denen die Ich-Erzählerin selbst Sozialforschung betreibt: Einfühlsam und detailgenau beschreibt sie das Leben in ihrer Pension und zeigt eine Umgebung, die sich gerade noch vom Krieg erholt: Dabei liegt ihr Interesse auf dem durch Ängste und Ressentiments bestimmten Ehepaar Gottwald, das direkt neben ihr in der Pension wohnt und die Studentin regelmäßig zum Abendessen oder kleinen Ausflügen einlädt. Gekonnt beobachtet sie, wie das aus Stettin geflüchtete Paar mit seiner Vergangenheit hadert und sich beim Ankommen im Alltag der BRD gegenseitig im Weg steht. Beide sehen sich als Opfer der Geschichte, denen die Heimat genommen wurde, wodurch sie der Umwelt im Allgemeinen „feindlich“ gegenüberstehen. Eindrücklich wird von Hannah eine Szene geschildert, in der die Ehefrau gegen diese Denkmuster und kleinbürgerliche Enge aufbegehrt, indem sie eine abseitige Geschichte von einer toten Libelle erzählt, die sie während ihrer Arbeit als Dienstmädchen in der Stube gefunden hat. In ihrer Rolle als Erzählerin erscheint die verbitterte Frau Gottwald in einem ganz anderen Licht: „Für einen kurzen Moment kommt Frau Gottwald mir nicht wie Frau Gottwald vor. Sie ist inkognito auf der Durchreise; zufällig, nicht hierher gehörig. Gleich ist sie wieder weg, eine Besucherin. Sie hat Wichtigeres zu tun, als mit uns das Abendessen einzunehmen. Zweifellos setzt Frau Gottwald mit ihren Worten die gespenstische Fehde der Eheleute fort.“
Das Motiv des Ausbrechens und des Widerständigen ist zentral: Mit wenigen Worten beschreibt die Protagonisten treffsicher die Missstände und Gefühlsbarrieren zwischen den Eheleuten, die ihren Alltag so grau, trist und zwanghaft werden lassen, um anschließend Momente aufzuzeigen, in denen die Strukturen plötzlich aufbrechen und etwas „Unerwartetes“ passiert. Heimlicher Begleiter ist in diesen Passagen die Leitfigur Wiesengrund, der in seiner Moralphilosophie Widerstand gegen die Verhältnisse anmahnt. Der Blick der Erzählerin auf diese bürgerliche Enge ist dabei niemals herablassend, sondern von Neugier geprägt. Weniger soziologische Modelle und Strukturen, vielmehr das Interesse am Verborgenen und Nicht-Selbstverständlichen im Alltäglichen ist es, das die Studentin leitet und ihre Faszination an Wiesengrunds Denken begründet.
Zum Ende gleitet der in einem leichten Ton geschriebene und überzeugende Roman ins Konstruiert-Kitschige ab, wenn die Vater-Tochter Beziehung herausgearbeitet wird: Zuletzt muss sich Hannah zwischen dem Studium bei Wiesengrund in Frankfurt und ihrem als Wissenschaftler in Salzburg tätigen Vater entscheiden. Auch der eigene Vater ist in der Welt des Denkens zu Hause, allerdings als empirischer Forscher, als Experte in der Weltraumforschung. Der willensstarke Vater plant seine Tochter als Hilfskraft in seine Forschung einzubeziehen. Mit Hilfe der neuen „Vaterfigur“ kann sich Hannah dem Willen des Vaters widersetzen – sie hat einen eigenen Orientierungspunkt für ihr künftiges Leben gefunden: „Wie viele Sternarten dir im Weltraum zur Verfügung stehen!, könnte ich zu ihm sagen. Ich habe für mich nur diesen einen ausfindig gemacht, einen weder weit entfernten noch still vor sich hin funkelnden Stern. Seiner Natur nach pyknisch und überaus mitteilsam.“
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