Thomas Morus hält eine Rede

Das bisher unbekannte Dramenfragment „Die Fremden“ von William Shakespeare gibt Denkanstöße zum Umgang mit Flüchtlingen

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das schmale Bändchen stiftet auf Anhieb Verwirrung. Hat Shakespeare sein Werk wirklich mit dem Untertitel Für mehr Mitgefühl versehen? Was soll der rote Aufkleber auf dem Titel mit der Aufschrift „Weckruf aus einer anderen Zeit. Von ERSCHÜTTERNDER AKTUALITÄT“ aussagen? Bin ich versehentlich einer Ausgabe des „Wachturms“ der Zeugen Jehovas unter falschem Decknamen aufgesessen?

Das Vorwort von Heribert Prantl, seines Zeichens Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, ist betitelt „Wenn wir Flüchtlinge wären“. Aus ihm geht hervor, dass es sich um ein Stück gegen den Hass auf Fremde handelt. Schon in den ersten Sätzen erweckt der Autor den Eindruck, als hätte es eine Erscheinung wie die Pegida-Aufläufe oder etwas Vergleichbares bereits zu Shakespeares Zeiten gegeben.

Den im Stück enthaltenen Monolog des Londoner Bürgermeisters Thomas Morus gegen Fremdenhass und Ressentiments setzt er eins zu eins mit Shakespeares eigener Meinung, als wüsste er nicht, dass Charaktere in einem Theaterstück fiktive Figuren sind, deren Aussagen und Handlungen den Notwendigkeiten des dramatischen Geschehens unterworfen sind! Auf diese Weise gelangt er zu dem Schluss, dass Shakespeare nach 300 Jahren direkt zu uns spricht, eine Herangehensweise an ein literarisches Kunstwerk, die nur durch den herrschenden Zwang zur Aktualisierung und Vermarktung von Kunst erklärbar ist. Jeden Studenten würde man hierfür schärfstens kritisieren.

Aus dem Nachwort des Übersetzers Frank Günther ist zu erfahren, dass es am 1. Mai 1517, historisch belegt, den Ill May Day in London gab, an dem es zu Aufständen der ortsansässigen Handwerker und Händler gegen nach England eingewanderte Flamen und Franzosen kam, die vor der Niederschlagung der Aufstände in den Niederlanden durch den Herzog Alba geflohen waren. Die Einheimischen sahen sie als wirtschaftliche Konkurrenz an und verübelten ihnen ihr selbstbewusstes Auftreten. Der Funke ins Pulverfass war eine fremdenfeindliche Rede des Dr. Beal vom Osterdienstag 1517. Von da an kam es zu Ausschreitungen, denen erst eine Rede des Londoner Untersheriffs Thomas Morus Einhalt gebieten konnte, in der er an Empathie und Mitgefühl mit den Flüchtlingen appellierte. Hans-Dieter Gelfert bemerkte dazu: „London war damals eine durch und durch bürgerliche Stadt, die vom Lord Mayor regiert wurde, den die Stadtältesten (aldermen) jeweils für ein Jahr wählten. Diese wurden wiederum von den zwölf großen Zünften, den livery companies, gewählt und stellten die Verwaltungschefs der 26 Bezirke. Die Machtbefugnis des Lord Mayor war demnach beschränkt.“

Die verurteilten Aufständigen wurden von König Heinrich VIII. begnadigt. Im Jahr 1595 schienen sich diese unheilvollen Vorgänge zu wiederholen, diesmal ging es gegen die nach der Bartholomäusnacht von 1572 nach England geflohenen Hugenotten – auch sie wurden als ökonomische Bedrohung empfunden. Da gegen die Obrigkeiten gerichtet, wurde der Aufstand von Königin Elisabeth I. mit äußerster Härte niedergeschlagen. Eine 1593 vorgenommene Zählung ergab, dass im Textilgewerbe allein bereits 500 Einwanderer tätig waren. Außerdem gab es Gelfert zu Folge „Diamantschleifer, Goldschmiede, Knöpfemacher, Ärzte, Musiker und Vertreter vieler anderer Gewerbe, die zum Teil schon seit Jahrzehnten in London ansässig waren.“ Insgesamt waren sie eine kleine Minderheit. Ihr Spezialistentum machte sie jedoch den Obrigkeiten unentbehrlich und veranlasste diese zu ihrem Schutz.

Diese historischen Begebenheiten hat Shakespeare in dem ihm mittels komplizierter Textanalysen zugeschriebenen Dramenfragment aus dem Jahr 1604, einem Teil eines Konvoluts von unterschiedlichen Autoren, künstlerisch verarbeitet. Es ist zweisprachig wiedergegeben. Ein Faksimile eines Textauszugs ist ebenfalls abgedruckt. Den Kern des Textes bildet die erwähnte Rede Thomas Morus` an den aufrührerischen Mob, in der es unter anderem heißt: „Wie gefiel’s euch dann,/ ein Volk zu finden, das, / wie ihr Barbaren, / in furchtbare Gewalt ausbricht und euch / den Aufenthalt verwehrt.“

Der Heilige Thomas Morus (1478-1532) wurde im Jahr 2000 zum Patron der Regierenden und Politiker ernannt, denn der seit 1529 als Lordkanzler im Dienste Heinrich VIII. stehende Humanist und Erasmus-Freund entschloss sich sein Amt niederzulegen, als der König sich zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche ernannte, und verweigerte den Suprematseid. Dies brachte ihn in die Kerker des Towers, von wo ihn sein Weg als Märtyrer für den katholischen Glauben auf das Schafott führte. Die Worte Papst Johannes Pauls II. über Morus können auch als bleibender Kommentar zu Shakespeares Text über ihn gelesen werden: „Seine Gestalt wird […] als Quelle für eine Politik anerkannt, die sich den Dienst am Menschen zum obersten Ziel setzt.“

Titelbild

William Shakespeare: Die Fremden. Für mehr Mitgefühl.
Mit einem Vorwort von Heribert Prantl.
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Frank Günther.
dtv Verlag, München 2016.
69 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783423145558

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