Deutschland von oben

Gerhard Launers Fotobuch geht in eine faszinierende Vogelperspektive

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1931 erschien „Deutschland von unten“. Das Buch war Ergebnis einer Reise des „roten Grafen“, Alexander Graf Stenbock-Fermor, durch das Deutschland der 1920er Jahre. Der spätere Reporter der „Frankfurter Zeitung“ hatte eine neusachliche Milieureportage im Sinn. Es wurde das Gegenbuch zu Siegfried Kracauers soziologischer Studie „Die Angestellten“ (1930). Dokumentiert wurden das Wohnungselend, der Drückerlohnwettbewerb, die Arbeitsausbeutung in den deutschen Mittelgebirgen, in der erzgebirgischen Spielzeugindustrie etwa. Der Berliner Germanist Erhard Schütz hat das Buch 2016 neu herausgegeben, mitsamt seinen 62 historischen Fotografien.

Das Buch von Gerhard Launer zeigt Deutschland gut 80 Jahre später – und von oben, aus einigen hundert Metern Entfernung. Der renommierte Luftbildfotograf hat 2016 seine Aufnahmen deutscher Kultur- und Naturlandschaften gesammelt. Herausgekommen ist ein eindrucksvolles Zeugnis der landschaftlichen Faszination, das zugleich ein fotografisches Kunstwerk ist. Das Land, das im Norden von den Inseln und Halligen der Nord- und Ostsee, im Süden von den Alpen begrenzt wird, kommt in oft ungewöhnlichen Panoramaaufsichten in den Blick. Von den Ausmaßen des Hamburger Hafens kann man sich wohl nur von oben ein Bild machen. Von der Geschäftigkeit im davon unweit entfernten Maschener Rangierbahnhof, in dem pro Tag rund 200 Güterzüge zusammengestellt werden, gilt das wohl ebenso. Den Verkehr unter der Kuppel des Leipziger Hauptbahnhofs, mit 21 Gleisen der größte europäische Kopfbahnhof, kann man hingegen nur erahnen. Klöster, Schlösser und Parklandschaften, Wälder, Mittelgebirge und Seen, selbst die Industrielandschaften in Gelsenkirchen, der Braunkohletagbau bei Düren und die Autobahnmäander im Ruhrgebiet haben, aus der Luft betrachtet, etwas durchaus Ästhetisches an sich.

Nun kann man trefflich darüber debattieren, welche Inneneinsichten denn diese Luftaufnahmen einer der führenden Industrienationen und reichsten Kulturlandschaften Europas eröffnen. Ist Launers Fotografie die wahrhafte „Retina der Wissenschaft“ (Jules Janssen)? Es ist wohl weitaus spannender, die Fotos historisch zu lesen. Norbert Lammert schlägt in seinem klugen Vorwort vor, das Land mit seiner wechselvollen Geschichte und mit seinen Geschichten, die von den Regionen und  Landsmannschaften erzählt werden, zu suchen. Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts wäre nicht das, als was es sich von oben zeigt, wenn man es nicht auch von innen besichtigte, auf der Grundlage dessen, was Einigkeit und Recht und Freiheit seiner Bürger (80 Millionen, aus  140 Nationen) sichert: Deutschland ist auch aufgrund seiner Verfassung zu seinem Glück vereint. Navid Kermani hat dieses Deutschland in seiner Berliner Rede zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes „das beste, das wir kennen“, genannt. Davon kann man sich mit den Fotografien von Gerhard Launer ein vorzügliches Bild machen.

Titelbild

Gerhard Launer: Faszination Deutschland.
Mit einem Text von Norbert Lammert.
Verlag Ellert & Richter, Hamburg 2016.
250 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783831906321

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