Heimliche Belehrungen
Über Ralph-Rainer Wuthenows Darstellung der Moralistik in „Wahrheiten über den Menschen“
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Moralistik ist die Literatur der scharfen Seelenanalyse, vorgetragen in prägnanten Formulierungen. Sie beschreibt das Verhalten der Menschen und versucht es zu verstehen. Von dem Literaturwissenschaftler Ralph-Rainer Wuthenow (1928-2013) ist posthum ein Buch zum Thema erschienen, das, um es gleich zu sagen, ein großer Lesegenuss ist.
Nach Wuthenow ist Moralistik „nicht logisch ableitend, nicht ausführlich argumentierend und beweisend, wie die Wissenschaft es will, sondern viel eher wie im lebhaften Gespräch – kein Wunder, dass eine so gesellige Nation wie die französische die meisten bedeutenden Moralisten, ja als einzige eine wirkliche Tradition dieser eigentümlichen Gattung besitzt“. Die wichtigste Erscheinungsform der Moralistik ist der Aphorismus, zu dem in Wuthenows Systematik auch die Maxime, die Sentenz und die Lebensregel gehören. Der Essay, insbesondere von Michel de Montaigne, grenzt an den Aphorismus. Kurz: Die großen Moralisten sind große Aphoristiker.
Die Moralistik besetzt nur einen schmalen Ast unter den Literaturgattungen, jedoch einen auffälligen. Zum einen haben die Moralisten intensiv auf das Denken großer Literaten eingewirkt; Wuthenow nennt Voltaire, Shakespeare und weitere. Zum anderen sind die moralistischen Texte mancher Autoren Nebenwerke, in denen sich ihr eigentliches Werk in subtiler Weise spiegelt, ja konzentriert. Dies gilt etwa für Montesquieu (Pensées und Spicilège sind diese Nebenwerke) und Johann Wolfgang von Goethe (Maximen und Reflexionen). Montesquieu, überzeugter Republikaner, bemerkt als Moralist: „Eine verdorbene Monarchie ist kein Staatswesen, es ist ein Hof“, und als Moralist erklärt Goethe: „Was man nicht versteht, besitzt man nicht“ – es ist ein Satz, der sein ganzes Bildungskonzept ausdrückt. Wuthenow nennt solche kompakten Äußerungen Goethes das „incognito eines großen Schriftstellers“.
Im Buch werden die großen Moralisten kapitelweise behandelt. Was die erwähnte Tradition der Franzosen betrifft, so widmet sich Wuthenow Montaigne, François de La Rochefoucauld, Jean de La Bruyère, Montesquieu und Nicolas Chamfort. Gleichfalls bespricht er die Italiener Francesco Guicciardini und Giacomo Leopardi, den Spanier Baltasar Gracián, den Briten William Hazlitt und die Deutschen Georg Christoph Lichtenberg, Goethe, Friedrich Nietzsche und Hugo von Hofmannsthal. Immer wieder gibt es Querverweise auf Theophrast, Leonardo da Vinci, Novalis, Arthur Schopenhauer; auch Paul Valérys Moralistik wird erwähnt. Bald das gesamte Europa ist also vertreten.
Wuthenows Darstellungen der einzelnen Autoren lesen sich sehr angenehm, es ist ein intellektuelles Vergnügen, sich von ihm durch die Geschichte der moralistischen Literatur führen zu lassen. Dabei meistert er seine Informationsfülle in exzellenter Weise. Seine schwungvolle und mitreißende Sprache ist nuancenreich und präzise. Bei Goethe gehe es „nicht immer ganz so olympisch“ zu, und gemäß Montaigne sei „das meiste, was wir unternehmen, eh nur farcenhaft“.
Wuthenow stellt die Autoren mit ihrem Denken vor und ordnet sie in ihre Zeit ein; und er fügt reichlich typische Zitate an, die das Gesagte verdeutlichen: Gracián etwa fordert auf, den falschen Schein der Welt zu akzeptieren, und gibt sich sentenziös. „Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist?“, ruft er seinen Lesern zu, und sagt auch, die Höflichkeit sei „die größte politische Zauberei“. La Rochefoucauld beschreibt kritisch das Gewohnte und die Klischeevorstellungen unseres sozialen Verhaltens; er stellt fest: „Die Tugenden münden in den Eigennutz wie die Flüsse in das Meer.“ Bei ihm steht auch der Satz: „Eifersucht enthält mehr Eigenliebe als Liebe“ – wobei interessanterweise, wie Wuthenow interpretiert, La Rochefoucauld von der Liebe zur Eigenliebe einen fließenden Übergang sieht. Lichtenberg, der die Selbstkontrolle will und jede Autorität in Frage stellt, rät: „Zweifle an allem mindestens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4.“ Später wird Goethe sagen: „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.“
Wuthenows Erläuterungen sind auch sehr erhellend, wenn er sich der poetischen Kraft seiner Autoren zuwendet. Er stellt die elegante Ausdrucksweise La Rochefoucaulds heraus, beschreibt die glanzlose Schlichtheit des Moralisten Goethe und erkennt im Stil Lichtenbergs das „Misstrauen gegen die Worte“.
Sichtbar wird immer wieder, und Wuthenow betont es, wie die Moralisten auf das Wesen des Menschen, auf den menschlichen Kern sozusagen, achten, und zugleich den Menschen als Bestandteil der Gesellschaft sehen. Für beides, für die Konstanten der menschlichen Seele und für ihre Wandlungsfähigkeit in der Mitwelt, waren diese Autoren hochsensibel.
Zu erfahren ist viel über die historische Entwicklung der Moralistik. La Bruyère wagte schon in der Epoche des Absolutismus, zornige Blicke auf die soziale Ungleichheit zu werfen: „Es gibt eine Art von Scham, im Angesicht des Elends glücklich zu sein.“ Doch erst im nächsten Jahrhundert stellte Chamfort, der Moralist der französischen Revolution, rebellisch fest: „‚Der Adel’, sagen die Adeligen, ‚vermittelt zwischen dem König und dem Volk.’ Ja, wie der Jagdhund vermittelt zwischen dem Jäger und dem Hasen.“ Hofmannsthal beobachtet: „Vergewaltigung der Natur ist ein starkes Ingredienz unserer Kultur“, und radikalisiert dabei eine Aussage Goethes: „Die Natur weiß ganz allein, was sie will, was sie gewollt hat.“ Diese Dynamik in der Entwicklung der Moralistik tritt noch deutlicher zutage, wenn ein Moralist ausdrücklich seine Vorläufer nennt. Nietzsche wollte die französische Tradition fortsetzen und sagte: Die Moralisten mussten immer auch „Immoralisten“ sein, „weil sie die Moral seciren“ und dadurch sie „tödten“. Nietzsches Lebens- und Sterbensphilosophie klingt hier an (zu leben heiße, „Etwas von sich abstoßen, das sterben will“).
Viele Moralisten nehmen, wenn sie sich auf Vorgänger berufen, eine bescheidene Haltung ein. Alles sei schon gesagt, das meinten etwa La Bruyère und Goethe, und allein dieses neue Ziel gebe es: „Man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.“ (Goethe) Bescheidenheit ist überhaupt ein Grundansatz der Moralisten (dies gilt sogar für Nietzsche), und zwar ein sehr fruchtbarer: Schon Montaigne wollte zunächst sich selbst in seinen Schwächen beschreiben und schließlich damit ein Exempel für den Menschen schlechthin liefern. Man kann den Sachverhalt so sehen: Die Moralisten wollten unmerklich belehren. Es ist eine Erkenntnis, die Wuthenow zu Beginn ausspricht: „Das unmerkliche Belehrende, das niemals endgültig heißen darf“, dies sei der eigentliche Gegenstand seines Buchs. Kein Zweifel, auch deswegen spricht es seine Leser an.
Wie ist dieses Buch entstanden? Zur Hälfte ist es die Wiedergabe von früheren Publikationen Wuthenows, die übrigen Teile gehen auf Typoskripte aus Wuthenows Nachlass zurück. Der Herausgeber und sein im Vorwort genannter Redakteur Michael Schwidtal mussten also aus disparaten Vorlagen ein Werk aus einem Guss machen. Diese mühevolle Aufgabe ist insgesamt gelungen. Manche Überschneidungen und Uneinheitlichkeiten (meist, aber nicht immer, erscheint die Maxime als eine Untergattung des Aphorismus) sind verblieben. Einmal verweist eine Fußnote auf eine Veröffentlichung Wuthenows ohne anzugeben, dass diese inzwischen ein Kapitel des Buchs ist. Unschön sind Schreibweisen wie „A. Schopenhauer“, „P. Valéry“. Sehr zu loben ist die redaktionelle Entscheidung, all die vielen Zitate in deutscher Sprache zu bringen und die fremdsprachigen Originalfassungen in die Fußnoten zu verweisen. Die flüssige Lesbarkeit des Ganzen wird dadurch noch erhöht, und auch der Romanist und der in Fremdsprachen Versierte werden bestens bedient.
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