FSK 18 oder jenseits von Sitte und Moral das ‚tobende Leben‘?

Satu Heiland thematisiert auf 380 Seiten die ‚Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht‘

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer hypersexualisierten Welt, in der die Silben ‚Por‘ und ‚No‘ allgegenwärtig erscheinen, erscheint es kaum vorstellbar, dass es Ähnliches durchaus früher schon einmal gab – und das gilt insbesondere für die Epoche des ‚körperfeindlichen‘ Mittelalters. Satu Heiland weist in vorliegender Publikation, einer Überarbeitung ihrer 2014 abgeschlossenen und mit dem Gender Studies Price ausgezeichneten Dissertation, nach, dass dem keineswegs so war und es in der von ihr untersuchten Gattung des ‚Märe‘ durchaus ‚zur Sache‘ ging. Dies geschieht allerdings in einem nur bedingt passenden interpretatorischen Referenzrahmen, in dem sich Brüche zwischen verschiedenen Großkapiteln erkennen lassen. So stehen sich das Postulat des ‚unsichtbaren weiblichen Geschlechts‘ und der Untersuchungsgegenstand, eben Sichtbarmachung und metaphorische Beschäftigung mit weiblicher Sexualität, eigentlich unvereinbar gegenüber.

Aber der Reihe nach: Dem Untersuchungsfeld der ‚Visualisierung‘ – eigentlich vor allem der Benennung – von Geschlechtlichkeit hat Heiland eine insgesamt lesenswerte und nicht zuletzt um definitorische Marksteine bemühte Einleitung vorausgestellt, in der neben einem Abriss der Forschungsgeschichte auch die Themenbearbeitung selbst vorgestellt wird. Die Thematisierung, Benennung oder im definierten Sinne ‚Visualisierung‘ von Geschlechtlichkeit ist – und das gilt eben nicht nur für den weiblichen Teil der Menschheit – nicht nur immer etwas heikel, sondern meines Erachtens auch zutiefst deutungsverhaftet. Gerade dieser Aspekt wird bereits im ersten der ‚eigentlichen‘ Großkapitel deutlich.

Diese umfangreiche, offenbar als Referenz zum Thema aus heutiger Sicht gedachte und durch die entsprechende Numerierung dem Hauptteil zugeordnete, Hinleitung ist mit ‚Leerstelle Genitale – Ein kulturhistorischer Abriss‘ übertitelt, dabei sehr weit und nicht unbedingt zielführend angelegt. Der von Heiland hier in den Blick genommene aktuelle Diskurs zur Invisibilität des weiblichen Geschlechts erscheint mir allein schon zumindest unglücklich, weil in der vorliegenden Form bestenfalls bedingt stimmig. Das gilt sowohl etwa für das grundsätzliche Axiom einer abendländischen ‚Inszenierung von Unvollständigkeit‘ des weiblichen Geschlechts als auch en detail etwa dafür, dass die Unkenntnis über die Bedeutung des Begriffs ‚Vulva‘ und seine Gleichsetzung mit dem Wort ‚Vagina‘ eine Art von Entsexualisierung der Frau sei. Ähnliches gilt für die Ausführungen zur ‚mittlerweile praktisch normativen weiblichen Intimrasur‘, die diese ausschließlich in Zusammenhang mit der ‚Verkindlichung‘ erwachsener Frauen setzen. Dass als Querbeleg ausgerechnet afrikanische Vorstellungen zur weiblichen Schambehaarung herangezogen werden, bricht überdies die These vom ‚abendländischen Tabu‘ gegenüber weiblicher Sexualität in toto auf. Diese ersten sechzig Seiten tragen in vorliegender Form daher meines Erachtens bestenfalls sehr bedingt zum eigentlichen Thema bei, das ja gerade die Offenlegung weiblicher Geschlechtlichkeit beinhaltet. Hier hat womöglich eine an korrekter Genderperspektive orientierte Wahrnehmung ‚die Feder geführt‘, und das leider eher zum Nachteil für das Ganze.

Ärgerlich in diesem Zusammenhang ist aber nicht nur, dass dieser erste Großabschnitt eher den Kern der Arbeit verfehlt, sondern vor allem auch, dass angesichts dieser Paraphrasierungen das Interesse am Weiterlesen doch deutlich gedämpft wird. Das ist nicht zuletzt deshalb schade, weil die Autorin auf der Grundlage von verschiedenen Mären-Texten Interessantes zutage gefördert hat. Mit den gesichteten literarischen Texten verbindet Heiland die Grundsatzfrage eben nach der ‚Visualisierung‘ von (weiblicher) Geschlechtlichkeit. Und im Rahmen der Gattung der ‚Mären‘ lässt sich Entsprechendes beobachten beziehungsweise registrieren. Die Autorin erkennt in den untersuchten Texten ein ‚raffiniertes Spiel von Sehen und Sichtbarkeit‘ weiblicher Sexualität, die – was allerdings auch für männliche Geschlechtlichkeit gilt – ansonsten eher verpönt erscheint. Dies wird in den folgenden beiden Großkapiteln ausgeführt.

Der erste dieser beiden eigentlichen Hauptteile widmet sich unter dem Obertitel ‚Wortschatz zum weiblichen Genitale im Märe‘ den unterschiedlichen, ‚eigentlichen‘ wie ‚uneigentlichen‘ Benennungen für weibliche Geschlechtlichkeit beziehungsweise Geschlechtsteile. Uneigentlich aber sind auch die darauf folgend untersuchten Synonyme hierfür, die sowohl aus dem Bereich der Pflanzen- und Tierwelt stammen, aber auch den Kontexten des Militärischen entnommen sein können. Allgemeinere, nicht eindeutig abgrenzbaren Gruppen zugeordnete Bezeichnungen werden als ‚Miscellanea‘ ebenfalls dieser Auflistung und Interpretation von Synonymen zugeordnet.

Hier sind zunächst entsprechende Begrifflichkeiten aufgelistet, die dann in einem kurzen, aber hilfreichen Register am Ende des Buches anwendungsfreundlich aufgelistet sind. Überdies werden diese Synonyme in den literarischen Kontext gestellt, also in den entsprechenden Zitaten in ihrer bei der bloßen Auflistung nicht in jedem Falle erkennbaren sexuellen Aufladung verdeutlicht. Die Autorin hat hier wie im anschließenden Teil eine recht breite Textbasis herangezogen und daraus zitiert, so dass ihre Darlegungen gerade hinsichtlich des metaphorischen Gehaltes eigentlich ‚unsexueller‘ Benennungen transparent und nachvollziehbar ist.

Dies gilt weitgehend auch für das sich anschließende Kapitel über ‚Komische Heilige und brennende Jungfrauen‘. Anhand der eher auf Handlungs- und Erzählzusammenhänge hin orientierten Untersuchung einzelner ‚Märe‘, weist Heiland die verschiedenen Inszenierungen beziehungsweise ‚Visualisierungen‘ von weiblicher Sexualität nach. Dabei erweitert die Autorin auch anhand der Allegorie des Rosenstrauchs respektive Rosengartens ihren Blickwinkel. Inwieweit Querbezüge etwa zur Marienlyrik oder der bildlichen Darstellungen der Gottesmutter (Abbildungen 4 und 5 von insgesamt fünf Bildbeispielen) in einer entsprechenden Umgebung die Interpretation im Mären-Kontext vereindeutigt haben, mag dahingestellt sein, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt gesehen ist auch der dritte Großabschnitt stringent aufgebaut und von der Autorin nicht ungeschickt angelegt worden, so dass ein stimmiger Abschluss gelingt.

Im Resümee wird dann zunächst folgende Paraphrasierung der Arbeit gegeben: „Im Verlauf der vorliegenden Untersuchung hat sich bestätigt, dass im schwankhaften Märe das Konzept der Visualisierung bewusst eingesetzt wird, um weibliche Sexualität zu inszenieren. […] so zeigt die Analyse einer sehr eng miteinander verknüpften Reihe von Texten, in denen die weibliche Libido thematisch ist, wie hier durch verschiedene Strategien eine bisher verborgene Lust der Frau sichtbar gemacht, durch eindrucksvolle Bilder ‚vor Augen‘ geführt wird.“ Dem ist wenig hinzuzufügen, auch wenn nicht ganz klar ist, worauf sich diese ‚Bestätigung‘ bezieht, und auch die zitierten Textpassagen zwar dieses Axiom bestätigen, gleichwohl sind die dort gewählten ‚Bilder‘ nicht immer unbedingt ‚eindrucksvoll‘. Die Frage ist auch, wie neu diese Beobachtungen sind. Der Eindruck entsteht, dass vieles an anderer Stelle bereits gesagt worden ist.

So ist vorliegende Publikation erkennbar von der intensiven, literatur- und quellenkompetenten Auseinandersetzung der Autorin mit dem Themenfeld geprägt, aber eben auch axiomatisch gefangen. Ein immenser Bruch liegt, wie bereits erwähnt, darin, dass anfangs eine Art Hinführung zur eigentlichen Arbeit, der bereits wiederholt erwähnte ‚Abriss‘, die ‚Leerstelle [weibliches] Genitale‘ und entsprechende Folgen in Form einer Art von ‚Entsexualisierung‘ der Frauen zum Thema hat, die eigentliche Arbeit jedoch detailreich die Visualisierung und mitunter recht einfallsreiche Metaphorik eben dieser ‚Leerstellen‘ thematisiert. Zielführender wäre es gewesen, der Frage nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit der in den Mären thematisierten Freizügigkeit nachzugehen oder etwa den Versuch eines Vergleichs mit der (virtuellen) Hypersexualisierung unserer Tage zu unternehmen.

Insgesamt bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück; einerseits ist der hohe Arbeitsaufwand, der zweifellos in ‚Visualisierung und Rhetorik von Geschlecht‘ steckt, zu erkennen und anzuerkennen, andererseits werden die geweckten Erwartungen eben doch nur bedingt erfüllt und das Gefühl bleibt, dass quasi etwas ‚verschenkt‘ wurde. Das ändern auch die insgesamt fünf Abbildungen nicht wirklich, zumal die kleinformatig gehaltenen Bilder kaum zum Erkennen von Details taugen. Die erwähnten Widersprüche tun ein übriges, so dass das vorliegende Buch zwar durchaus ein bereicherndes ‚Kann‘ darstellt, aber eben kein wirklich zwingendes ‚Muss‘. Daher wird auch der üppige Preis der Publikation im Zweifel vermutlich eher gegen eine Anschaffung sprechen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Satu Heiland: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe.
De Gruyter, Berlin 2015.
380 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783110427073

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