Kulturtheorie küsst Zahnmedizin

„Das Dentale“ erkundet interdisziplinär-anthropologisch den Mundinnenraum

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entwicklungsgeschichtlich ist es der aufrechte Gang, der dem Menschen die Hände frei zum Gebrauch und zur Fertigung von Werkzeugen macht – ein eminenter Schritt hin zum Kulturwesen. In dem Maße, wie die Hände nun das Greifen, Zupacken, Kämpfen, Töten, Tragen und das Zerteilen der Nahrung übernehmen können, befreien sie den Mund von diesen Aufgaben. So kann er zum Ort sprachlichen Ausdrucks, der Symbolisierung und Verständigung werden. Von hier nimmt der homo oralis als historisches Wesen mit mythisch-narrativer Kultur seinen Ausgang.

Dergestalt leitet der Band Das Dentale – Faszination des oralen Systems in Wissenschaft und Kultur seine zentrale These ab: Die zweite Geburt des Menschen, nämlich die soziokulturelle, erfolge im und durch den Mundraum. Dessen „anthropologisch fundamentale Bedeutung“ lasse sich in drei Dimensionen aufgliedern: 1. Atmen und Essen (metabolische Achse), 2. Sprache und Mimik (kommunikative Achse) und 3. Orale Libido und Aggression (triebdynamische Achse). Entlang dieser Hauptachsen arbeiten sich die Autoren durch die Evolutionsbiologie der Zähne bis hin zu ihrer kulturellen Thematisierung in Film und Kunst.

Dabei lernen wir unter anderem, dass Kauen keineswegs eine primitive Tätigkeit ist, sondern im Vergleich zu Reißen und Schlucken eine höchst komplexe. Dass Sprache nicht nur Logos ist, sondern auch körperliches Geschehen, ein Zusammenspiel von Atmung, Stimmbändern, Kehlkopf, Zunge und Lippen. Und dass wir ihre Entstehung besser von primären Gebärden als von Lauten her verstehen sollten: Gestische Bezugnahme und Mimesis als Grundbewegungen menschlicher Kommunikation – von der Hand zum Mund, von der Handlung zur Stimme. Ehrfurcht flößen Bilder und Beschreibung der embryologischen Entwicklung von Gesicht und Mundraum ein, ebenso wie die Ausführungen eines Operateurs, der konstruktive gesichts- und schädelchirurgische Eingriffe bei Kindern durchführt und über schwere Entscheidungen auf Seiten der Eltern wie auch der Ärzte berichtet. Erstaunt erfahren wir, warum Zähne in Dentalkulten mancher indigener Völker rituell verstümmelt, ausgeschlagen oder verfärbt werden. Und mit Gruseln werden wir in die oral-sadistischen Phantasmen des Kinos hinabgeführt. Fraglich, ob der auf dieser Weise verstörte Leser echte Beruhigung in den Kapiteln über die Psychotherapie von Zahnbehandlungsangst oder psychoanalytische Betrachtungen des Beißens und Einverleibens erfährt. Gewiss dagegen ist, dass eine große Frage des menschlichen Daseins offen bleiben muss: Welchen Sinn es hat, dass Zahnschmerzen so grässlich sind, weiß bis heute kein Wissenschaftler zu sagen.

Das Dentale ist unter der Herausgeberschaft des Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme sowie der Zahnmediziner Bernd Kordaß und Beate Slominski zu einem gelungenen Exempel interdisziplinärer Arbeit geraten. Dazu tragen Experten aus so unterschiedlichen Professionen wie der Ethnozahnmedizin, Neurochirurgie, dentalen Prothetik, Mammalogie (Säugetierkunde), Kunstgeschichte und Philosophie bei.

In diesem überaus reichhaltigen „Polyperspektivismus“ ist der opulent gestaltete Band (500 Abbildungen) sicherlich auch eine gezielte Überforderung wohl jedes denkbaren Lesers. Die Kapitel sind durchgängig auf anspruchsvoll wissenschaftlichem Niveau verfasst. Nicht launiges Blättern und Schmökern wird hier bedient, sondern echtes Interesse und Wissensdurst.

Wer nicht eh aus einer ans „Dentale“ angrenzenden Profession kommt, sollte bereit sein, sich auf fremde Themengebiete einzulassen. Dies vorausgesetzt, wird man von ausgewiesenen Spezialisten ihres Faches aufs Beste belehrt. Neben den wissenschaftlichen Ausführungen sorgen rund 40 „Intermezzi“ – Abbildungen von Kunstwerken, Illustrationen sowie kürzere Texte – dann doch auch für kurzweilige und vor allem ästhetische Impressionen.

Titelbild

Hartmut Böhme / Bernd Kordaß / Beate Slominski (Hg.): Das Dentale. Faszination des oralen Systems in Wissenschaft und Kultur.
Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin 2015.
471 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783868672978

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