Keine reinen Geschmackssachen

Hanns Frericks sucht in „Was ist ein guter Roman?“ nach objektiven Beurteilungskriterien

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der Aufgaben der Literaturkritik ist es, die Neuerscheinungen zu kommentieren und zu bewerten, um, salopp gesagt, im Dienste der Kanonisierung wie Dekanonisierung die literarische Spreu vom Weizen zu trennen. Welche Macht die Kritiker dabei haben können, konnte in der Vergangenheit mehrmals beobachtet werden: Hier ist etwa an den buchstäblichen Romanverriss von Günter Grass’ Ein weites Feld durch den seligen Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki zu erinnern. So war das Privileg diese Königsdisziplin öffentlich zu betreiben einst vor allem den überregionalen Feuilletons und einigen wenigen medial präsenten Kritikern vorbehalten. In der neusten Geschichte jedoch lässt sich eine fortschreitende Demokratisierung der Literaturkritik beobachten, die durch steigende Professionalisierung und Ansprüche der Literaturblogger vorangetrieben wurde. Doch das, was jemand unter einem guten Buch versteht, variiert stark abhängig von seinem individuellen Anspruch an die Literatur, den Interessen oder der Lesesozialisation. Eine intuitive Qualitätszuschreibung auf subjektiver Basis (meist am Unterhaltungsfaktor gemessen) abzugeben, fällt selten schwer: Entweder entspricht das Werk den Erwartungen oder eben nicht. Problematischer dagegen wird der Versuch, das eigene Urteil so mit Argumenten zu stützen, dass dieses allgemeingültig oder zumindest für andere plausibel erscheint. Eben in der Vorherrschaft einer subjektiv ästhetischen Erfahrung und Wahrnehmung besteht der Hauptvorwurf des professionellen Feuilletons gegenüber den Literatur- und Buchbloggern.

Also: Was ist ein guter Roman? Dies eruiert in der vorliegenden Monografie Prof. em. Hanns Frericks, ehemaliger Fachleiter für Deutsch und Bereichsleiter am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung in Stuttgart sowie langjähriger Vorsitzender der Lehrplankommission Ethik für berufliche Gymnasien. Durch die eigene Romanlektüre motiviert versucht er, „einen Kriterienkatalog aufzustellen, der es doch erlauben sollte, das undurchdringliche Dickicht, den Dschungel oder auch das Chaos der Romankritik zu lichten oder zu strukturieren“. Als Vorbild führt er den angelsächsischen Raum vor, wo unter „criticism“ eine systematische Erörterung der Künste verstanden werde, die deren Werke und Techniken erkläre und bewerte sowie die eigene Leseerfahrung entsprechend begründe. Dagegen sei die deutsche Literaturkritik – hier bezieht sich der Autor auf die Aussagen des bereits erwähnten Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki, der stolz darauf gewesen sei, keinem solchen Katalog zu folgen – durch „die eigene, unverstellte Subjektivität“ dominiert. Ein Kriterienkatalog zur Beurteilung der Qualität literarischer Werke ist somit als Versuch zu deuten, sich von der eigenen Subjektivität zu lösen. Entstanden ist dabei ein Sachbuch, das bereits der Autor als einen Text bezeichnet, „der vom Hauptweg gelegentlich abweicht, verweilt, einen Nebenweg betritt, wieder zurückkehrt zum Ausgangspunkt“.

In einer Reihe von kleineren, mal mit einem wissenschaftlichen mal mit einem essayistischen Anspruch geschriebenen Kapiteln widmet sich der Autor unterschiedlichen Aspekten literarischer Prosawerke, die sich auf das Urteil des Lesers auswirken können. So analysiert er die Stoff- und Konstruktionsebene, inklusive der Erzählperspektive, die Entwicklung der Figuren sowie die Sprachebene; aber auch die allgemeine Aussage eines Werkes und seine Rezeptionspotentiale bei den Leserinnen haben Frericks zufolge einen Einfluss darauf, ob ein Werk als ein gelungenes oder als ein schlechtes einzustufen sei. Seine eigenen Beobachtungen und Überlegungen werden zur Veranschaulichung durch Expertenaussagen und Zitate aus bereits kanonisierten Werken der Weltliteratur bereichert, an denen Frericks Leserinnen die vorgeführten Faktoren nachvollziehen können. Der erste Ansatz – eine werkimmanente Kritik respektive eine weit verstandene Konstruktionsanalyse – eignet sich jedoch ausschließlich für literarische Werke, die einem traditionsgeleiteten Aufbau folgen. Sind aber Romane, auf die diese Kriterien nicht zutreffen – wie z.B. handlungsarme Werke Peter Handkes oder der ausschweifende und oft redundante Erzähler bei Thomas Bernhard – automatisch schlecht? Keineswegs. Für solche Romane schlägt Frericks zwei andere Zugangsweisen vor: den experimentellen Ansatz und den Ansatz der Innovation.

In dem experimentell orientierten Ansatz listet er für „zweifellos gute Romane, die in das Raster des ersten Ansatzes nicht recht passen wollen, [zwei] nahezu konträr andere Kriterien“ auf, und zwar Handlungsarmut und Überschreitungen üblicher Realitätserfahrung. „Offen bleibt zunächst, ob es sich um gelungene Experimente als Ausnahmen von der Regel oder einen gleichberechtigten Parallelansatz handelt“.

Der zweite Ansatz, Innovationen, ist dem Autor zufolge „zentral in der Einschätzung guter Literatur“ und ebenfalls problematisch. Vor der Postmoderne seien viele der Meinung gewesen, Innovation „ist ein notwendiges, nicht aber hinreichendes Kriterium großer Literatur“. Schon für die russischen Formalisten der 1920er Jahre war Innovation ein zentraler Begriff, und dies in doppelter Hinsicht: Erstens sei die Literatur schon immer durch den Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit innovativ gewesen und zweitens entstehe die Innovation durch im Dialog mit existierenden Kunstwerken entwickelte neue Konstruktions-Prinzipien. Da Innovation immer im Übergang von einer Tradition zur nächsten besteht, quasi einen Schwellenmoment in der Literaturgeschichte darstellt, ist sie als Kriterium schwer zu fassen (ein Fazit des Autors wäre hier sehr hilfreich). Zudem beobachtet Franco Moretti, dass sich die Innovation jeweils innerhalb einer Schriftstellergeneration erschöpfe: Würde die nachfolgende Generation dieselben Kunstmittel benutzen, gelte sie als epigonal. Schließlich entscheiden über das Überleben eines innovativen Werkes seine Leserinnen, die (wie Roland Barthes) meist nur beim absolut Neuen die Lese-Wollust empfinden. Dennoch zeige sich, so Frericks und der von ihm zitierte Germanist Dominic Berlemann, die Literaturkritik „tendenziell neuartigen, überraschenden Variationen gegenüber“ verschlossen.

Zum Abschluss liefert Frericks eine zusammenfassende Übersicht über alle im Buch dargestellten Beurteilungskriterien. Dem folgt eine Analyse ausgewählter Rezensionen hinsichtlich ihren zugrundeliegenden Beurteilungskriterien. Das Urteil des Autors fällt mager aus: Die Buchbesprechungen zeichnen sich durch eine Plot-Versessenheit aus, „die Romane gerne auf eine Inhaltsangabe reduziert“, und paraphrasierende Aussagen, die keine klare Stellung beziehen und allenfalls mit peripheren Einwänden arbeiten. Dies wirkt ernüchternd, denn in Zeiten, in denen sich zunehmend Laienkritiker zu Wort melden, müsste die professionelle Kritik ihre eigene Arbeit reflektieren. Verändert sich nichts, drohe die fachkundige Literaturkritik ihren Status als Qualitätsinstanz zu verlieren (worüber – nebenbei bemerkt – schon seit Langem immer wieder diskutiert wird, z.B. hier).

Was ist nun ein guter Roman? Am Ende des Buches angelangt, ist der Leser wahrscheinlich um neue literarische Horizonte reicher; doch wusste jemand vorher nicht, was für ihn einen guten Roman ausmacht, wird er/sie es nach der erfolgten Lektüre auch nicht wissen. Denn selbst der Autor vermag keine eindeutige Antwort zu liefern: „Fakt ist, dass sich auch professionelle Kritiker nicht (immer) einig sind in der Bewertung von Romanen“.

Die Kunst bestehe darin den eigenen Geschmack herausbilden zu können, indem man einerseits die eigenen Beurteilungskriterien reflektiert und andererseits viel Leseerfahrung macht. Daher sei es erlaubt, anstelle eines Schlusswortes den Autor selbst zu zitieren: „Ich schließe. Gibt es ein Fazit meines Gangs durch die Romanliteratur und ihre Reflexion und Beurteilung? Ein einfacher Appell an uns als Leser und Kritiker: Genau lesen!“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hanns Frericks: Was ist ein guter Roman?
Verlag opus magnum, Stuttgart 2016.
412 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783956121036

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