Die Bedeutung des Nebensächlichen

Henning Sußebach erkundet in ausgezeichneten Reportagen die gesellschaftliche Lage in Deutschland

Von Tim HeptnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Heptner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Darf man mit einer Lüge nach der Wahrheit suchen?“ Das ist die Ausgangsfrage zweier Reportagen, die zu den Glanzlichtern des vorliegenden Buches zählen, und die bei ihrem Erscheinen in der „Zeit“ für lebhafte Diskussionen gesorgt haben. Der Reporter Henning Sußebach und seine Kollegin verkleiden sich als Bettler-Paar Maria und Josef, und sammeln Erfahrungen aus erster Hand. Zuerst im Vordertaunus, in einer der reichsten Gemeinden Deutschlands, im Jahr darauf im Problembezirk Berlin-Neukölln. Wie hilfsbereit, wie solidarisch sind die Einwohner im Vergleich? Die Erfahrungen in Kronberg und Königstein, wo viele vermögende Akteure der Frankfurter Finanzbranche leben, sind niederschmetternd. Die Reichen machen den Reporter fassungslos: „Sie riegelten sich ab mit Ignoranz. Souveräner kriegt man Abschottung nicht hin.“ Maria und Josef in Neukölln wollen sich „der Unterschicht mal nicht von oben nähern, sondern von noch weiter unten.“ Am Ende der Recherche wird das Reporterduo geradezu beschämt von Hilfsbereitschaft. Nicht nur Nahrung und Unterkunft sind leichter zu organisieren, selbst Arbeit, „die in Neukölln ein knapperes Gut ist als ein Essen, eine Dusche, ein Schlafplatz“, findet sich schließlich. Der Autor weiß, dass seine Undercover-Methode angreifbar ist; aber sie wird legitimiert durch die so gewonnenen Erkenntnisse. Und sie sorgt für Lese-Spannung, da sie eine ideale Identifikation mit dem Reporter auf schwieriger Mission bietet. 

Dreizehn Reportagen von Henning Sußebach versammelt der vorliegende Band. Sie sind zwischen 2006 und 2015 in der „Zeit“ und im „Zeit Magazin“ erschienen. Sußebach interessiert sich laut „Zeit“-Autorenseite vor allem für „Nicht-Politiker, Nicht-Funktionäre, Nicht-Entscheidungsträger – denn jeder Mensch hat eine Geschichte, in jeder Biografie spiegelt sich Weltgeschehen.“ In seinem Vorwort äußert er die entsprechende Überzeugung, dass „ein Journalist nicht die buchstäblich naheliegenden Geschichten übersehen darf, die unscheinbaren, unspektakulären gleich nebenan.“ Mit seinen Reportagen wolle er „Allgemeingültiges im ursprünglichen Wortsinn entdecken – als gültig für die Allgemeinheit.“

Henning Sußebachs Texte sind zweifellos aktuell und relevant. Sie machen die sozialen und politischen Problemlagen des Landes erfahrbar: Gentrifizierung, Immigration und Integration, das Altern der Bevölkerung, die Remilitarisierung der Außenpolitik, veränderte Konsumweisen und die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft gehören zu den Themen. Es sind meist längere, hintergründige Stücke; nur ausnahmsweise gibt es auch kurze Formen, wie in der anekdotischen Story, die den Band eröffnet. Sie handelt von einem Lehrer, der rumänischen Arbeitern, die mit einer Autopanne liegen geblieben sind, spontan für zwei Wochen sein eigenes Auto leiht und deshalb von seinem Umfeld für verrückt erklärt wird. Die Geschichte hat einen ernsten Hintergrund, den Sußebach stilsicher und pointiert ausleuchtet.

Nahezu alle Texte sind szenisch stark aufgebaut, anschaulich geschrieben und mit klug gewählten Protagonisten besetzt. Souverän geht der Autor mit unterschiedlichen Erzählebenen und Perspektiven um; dank vieler Schnitte wirken seine Reportagen wie Filme und ziehen den Leser mitten ins Geschehen hinein. Politik und Wissenschaft bleiben nicht ungefragt, doch im Vordergrund stehen immer die handelnden Personen. Ihre Geschichten sind variantenreich dargestellt, in Form von klassischen Reportagen, Protokollen und den genannten Undercover-Stories.

Besonderen Orten, die zu komplex sind, um sie mit ein oder zwei Protagonisten zu erfassen, widmet Sußebach kaleidoskopartige Reportagen. Aus vielen Perspektiven setzt sich Bionade-Biedermeier zusammen, eine Abrechnung mit der Gentrifizierung des Prenzlauer Bergs. Die Reportage sammelt kritische Stimmen über den Berliner Stadtteil, der sich sozialromantisch präsentiert, in Wirklichkeit aber auf Konsum und Erfolg getrimmt ist. Den aufgeklärten Habitus seiner Bewohner entlarvt der Reporter als Folklore: „Das ist ja das Schöne. Man kann sich tolerant fühlen, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. Keine Parabolantenne beleidigt das Auge, kein Kopftuch sorgt für Debatten, keine Moschee beunruhigt die Weltbürger“. Den Friedhof Hamburg-Ohlsdorf porträtiert er in kleinen Episoden, in denen er den Geschäftsführer, den Amtsarzt, den Leiter des Krematoriums und andere begleitet. Sie alle haben zu kämpfen, denn tradierte Gedenk- und Bestattungspraktiken lösen sich auf; neuerdings lasten die Kosten schwer auf dem Friedhof und zwingen ihn zur offensiven Vermarktung seiner Dienstleistungen („Sterben als Geschäftsmodell“). Die Stimmen und Stimmungen vor Ort verbindet der Reporter gekonnt zu einem größeren Bild, das er mit statistischen, historischen und soziologischen Betrachtungen anreichert. 

Der gesellschaftliche Wandel spieltauch in Herr Hibbe macht zu eine Rolle, eine Reportage über den Untergang der Kaufhäuser und die Verlagerung des Warenkonsums ins Internet. Sußebach arbeitet mit Kontrasten und parallelen Handlungssträngen: Hier der insolvente „Vollsortimenter mit 40.000 Artikeln auf 3.300 Quadratmetern“, dort ein schickes Fabrikloft in Zürich, von wo aus ein Internethändler erfolgreich Socken und Unterhosen in die ganze Welt verkauft. Hier der frustrierte Kaufhausdirektor, den „man auch für den Hausmeister halten“ könnte, dort der smarte Online-Verkäufer, „mehrsprachig, mit internationalem Studium“, der seinen Kundenkreis ausbaut. Die gesellschaftlichen Kosten der digitalen Transformation betrachtet der Autor skeptisch: er protokolliert die Sorgen der von Arbeitslosigkeit bedrohten Kaufhaus-Angestellten und auch die schonungslosen Äußerungen des Schweizers, der die Welt von ihren „Sockensorgen“ befreien will und kürzlich „vier seiner fünf Büromitarbeiter ausgetauscht hat, um wieder ‚enthusiastischeres Personal‘ zu haben.“

Henning Sußebach, der auch an Journalistenschulen lehrt, schreibt „ungelesene“ Reportagen im besten Sinne, die frei von Klischees sind, erzählerisch und nachdenklich. Bewegend ist das mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnete Porträt eines Pfandsammlers, mit dem Titel Hoffmanns Blick auf die Welt. Hoffmanns Vergangenheit wird nur knapp umrissen; sein täglicher Existenzkampf hingegen detailliert geschildert. Das Wie ist wichtiger als das Warum. Ungeschönt vermittelt der Text die Erfahrungen einer Randexistenz, die dem Durchschnittsbürger den Spiegel vorhält: „Am gefährlichsten seien die Kerle in Hilfiger, Lacoste und Boss, Typen in Markenkleidung. Leute, die kurz vor dem Abkacken seien, motzen sich klamottenmäßig noch mal voll auf, sagt Hoffmann, und flüstern im Vorbeigehen: Überflüssiger Fresser. So sei das spätabends.“ Oder: „Die normalen Menschen hätten ein Raster über ihr Leben gelegt, das sie unglücklich mache, sagt Hoffmann, aber wie betäubt machten sie mit.“

Andere Reportagen sind sensationeller, effektvoller. Sie schildern Verkehrsunfälle und die individuellen Schicksalsschläge, die damit verbunden sind. Ein Surfer wird von einer Motoryacht überfahren, ein Geisterfahrer verursacht einen Autobahn-Crash. Das zurückliegende Unfallgeschehen kann der Autor stilistisch brillant wiederbeleben, mit teils drastischen Beschreibungen von platzenden Organen, abgerissenen Körperteilen, multiplen Operationen, schwersten seelischen und körperlichen Taumata. Aber die Drastik ist durch die Aufklärung gerechtfertigt, die der Reporter leistet. Er sammelt Indizien gegen Gesetzgeber und Behörden, die vor allem den Interessen der Industrie (hier die Boots- und Autoproduzenten und die Tourismusbranche) dienen, sodass Menschenleben als unvermeidliche Kollateralschäden erscheinen. Die Kontrolle der Mächtigen und die Solidarität mit den Schwächeren ist ein klares Anliegen Sußebachs.

Lesenswert sind auch seine Reportagen über Flucht und Integration. Eine Momentaufnahme entsteht in Passau, wo sich im Sommer 2015 „Weltgeschehen wie unter einem Brennglas“ bündelt, als hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen. Generationsübergreifend hingegen sind die Bemühungen einer ghanaischen Einwandererfamilie, bei der deutlich wird, wie sehr Bildung der Schlüssel einer erfolgreichen Eingliederung in die deutsche Gesellschaft ist.

Bei seinen Recherchen dringt der Autor ungewöhnlich tief ein in die Privat- und Intimsphäre. Das gilt beispielsweise für das Porträt eines alten Ehepaares, das der Reporter in Form eines Protokolls wiedergibt und das den Leser wegen seiner dramaturgischen Schlichtheit zuerst etwas ratlos zurücklässt. Der Text ist ein Blick durchs Schlüsselloch, unverstellt und detailreich, aber ohne Kommentar, Einordnung und Bewertung. Vermutlich lässt sich die Eingangsfrage „Wie ist das, wenn man so alt ist, wie jeder werden will und doch keiner sein mag?“ in einer Reportage auch gar nicht besser beantworten.

Titelbild

Henning Sußebach: Die große Welt gleich nebenan. Expeditionen in den deutschen Alltag. Reportagen.
Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538752

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