„Brandbeschleuniger“ der Reformation

Luthers Thesen neu übersetzt von Karl-Heinz Göttert

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das fünfhundertjährige Jubiläum der Reformation zeigt(e) schon Jahre vor dem eigentlichen Datum, dem 31. Oktober 2017, eine hohe Medienpräsenz. Einen Beweis dafür bilden unter anderem eine Reihe von Ausgaben der berühmten Thesen, die Martin Luther, so wie im Allgemeinen angenommen, als Diskussionsgrundlage für die Gelehrten seiner Zeit am Portal der Schlosskirche zu Wittenberg befestigte. War es vor einigen Jahren noch eher schwierig eine gute deutsche Ausgabe der Thesen zu finden, so gilt heute eher der umgekehrte Fall: es ist kaum möglich den 95 Glaubenssätzen nicht zu begegnen und sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mitunter verwässern sie sogar zu einer Art „Verfügungsmasse der Reformation“, auf deren Grundlage zwar kluge, aber dennoch beliebige Statements etwa über die Frage, was denn heute christlich sei, formuliert werden (vgl. „Was ist heute christlich?“. In: Die Zeit, 27. 10.2017).

In den Reigen der Einzelausgaben ordnet sich der von Karl-Heinz Göttert neu übersetzte und mit einem kompetenten Nachwort versehene Text ein.

Von ihrer Gestalt her unspektakulär, ursprünglich in lateinischer Sprache verfasst, so wie in wissenschaftlichen Abhandlungen des Humanismus üblich, erlangten Luthers 95 Thesen schnell eine Art Kultstatus als Gründungsmanifest des Protestantismus. Es ist hier nicht der Ort, Luthers Thesen, die ohne jeden Zweifel auch zu den identitätsstiftenden Texten der Deutschen gehören, inhaltlich zu deuten. Vielmehr geht es darum eine Neuübersetzung zu würdigen, deren Klarheit einen niederschwelligen und vereinfachten Zugang zu den Texten bietet. Sie ermöglicht den Lesern, den roten Faden „Ablasshandel“ gut zu verfolgen. Des Weiteren pointiert sie mit den neutral übersetzten gleichförmigen Redewendungen in Thesengruppen die Progression des Textes. (z.B. Thesen 45-49). Die für das Verständnis essenzielle Unterscheidung zwischen Lehre des Papstes einerseits und Modifizierung dieser Lehre im Ablasshandel andererseits dürfte hier niemandem Probleme bereiten.

Dass die Thesen gar nicht so revolutionär waren, wie ihnen gemeinhin nachgesagt wird, erläutert Göttert in einem kompakten, dennoch sowohl gut lesbarem als auch differenziertem Nachwort. Obwohl der 31. Oktober 1517 als Initialzündung der Reformation infrage gestellt worden sei, obwohl noch nicht einmal sicher sei, ob überhaupt und falls ja, wann Luther die Thesen an die Schlosskirche geschlagen habe, spreche nichts gegen das Datum. An der Versendung der Thesen am 31. Oktober sei nicht zu zweifeln und genau dies habe Luther selbst als Beginn der Reformation definiert. Der Tag vor Allerheiligen war ein traditioneller „Ablasstag“. Den sehr vielschichtigen Ablasshandel seiner Zeit habe Luther wohl kaum vollständig durchschaut. Er betrachte den Ablasshandel grundsätzlich als theologisches Problem im Rahmen der scholastischen Lehre. In seiner gesamten Ausprägung sei der Ablasshandel eine eher „randständige Form kirchlicher Praxis“ und damit der Anlass der Reformation tendenziell unspektakulär, obgleich die Vermischung von Spirituellem und Materiellem ein ausgeklügeltes System mit dem Zweck der Geldeinnahme für Kirchenbauten darstellte. „Luthers Problem mit dem Ablass“, so legt Göttert dar, reduziere sich auf den Kern der Gnade – der „Gnadenschatz“, den Christus und die Heiligen laut Luthers Meinung erworben haben und der den Menschen aufgrund ihrer Buße und der daraus resultierenden ernsthaften Reue zugeteilt werden könne, werde durch den Ablass vergeudet.

Auf gedruckten Plakaten erscheinen die Thesen oftmals in Gruppen von viermal 20 und einmal 15. Göttert hingegen erklärt die Thesen knapp und einleuchtend in sieben Gruppen und bemerkt dabei, dass Luther sich auf „Kabinettstückchen an Rhetorik“ eingelassen habe und „man durchaus von einem stilistischen Feuerwerk sprechen“ könne. Luther kritisiere den Papst selbst, wenn überhaupt, nur sehr moderat, sein geballter Unmut richte sich gegen die Schergen des Kirchenoberhaupts.

Welchen Weg die Thesen hin zu ihrer Veröffentlichung nahmen, bleibe im Dunkeln. Obwohl niemals eine Disputation stattfand, kursierten die Thesen in gedruckter Form schnell durch ganz Europa. Spätestens nachdem Johann Tetzel Thesen zur Rechtfertigung des Ablasses vorgelegt hatte, habe sich Luther dazu aufgefordert gefühlt eine Erläuterung der Thesen zu verfassen: mit den sogenannten Resolutiones habe er in erster Linie den Ketzervorwurf gegen ihn entkräften und dabei erneut den Kontakt zur Universität und einem gelehrten Publikum herstellen wollen. Außerdem präsentierte Luther im Kontext seiner Schrift Ein Sermon von Ablass und Gnade die Thesen auf Deutsch. Diese Schrift, mit einer Reduktion der Thesen von 95 auf 20, habe die Diskussion verschärft und im Zuge der schnell erfolgenden Widerlegung durch Tetzel den Vergleich Luthers mit John Wyclif und Jan Hus, Ketzern in den Augen der katholischen Kirche, bedingt.

Insgesamt, so folgert Göttert, sei das Anliegen der Thesen drei Jahre nach ihrem Erscheinen „wie vom Erdboden verschluckt“. Selbst in Luthers „großen Reformationsschriften“ aus dem Jahre 1520 spiele der Ablass keine Rolle mehr. Festzuhalten sei, dass die Thesen als eine Art „Brandbeschleuniger“ der Reformation Geltung beanspruchen. Dies beruhe auf zwei Paradoxa: zum einen verfehlten sie ihr ursprüngliches Ziel eine Disputation zu ermöglichen, zum anderen erzeugten „die Thesen […] ihre Wirkung […] jenseits ihres eigentlichen Inhalts. Sie machten Luther für immer zum Herausforderer“.

Die 95 Thesen in der Ausgabe von Göttert sollten in der Flut der Neuerscheinungen im Umkreis des anstehenden Lutherjahres nicht verlorengehen. Es war eine kluge Entscheidung des Fischer-Verlages eine Ausgabe im handlichen Format, ein regelrechtes „Kleinod“, herauszugeben. Schon allein die Platzierung der Thesen auf jeweils einer Seite ist als Einladung zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem einzelnen Satz zu verstehen. Das Nachwort Götterts tut ein Übriges um auch an sich lutherfernen Rezipienten einen leichten Zugang zur Welt der Reformation zu bieten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Martin Luther: Die 95 Thesen. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Karl-Heinz Göttert.
Karl-Heinz Göttert.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
136 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783596521142

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