Bleierne Müdigkeit
Von Beatrix van Dam
Gerade in der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel kann die Lektüre des Romanzyklus’ eines niederländischen Schriftstellers gefährlich sein, der seit 2012 Band für Band ins Deutsche übersetzt wird. Das Werk kann zwei mögliche Wirkungen haben, derer sich Leserinnen und Leser vor Lektürebeginn bewusst sein sollten: zum einen eine gerade im November zu meidende bleierne Müdigkeit oder zum anderen eine kompromisslose, Weihnachtszeit ziehende Abhängigkeit. Der Zyklus ist ein Minimalkunstwerk des Erzählens, das vorführt, wie sieben aufeinanderfolgende Romane gefüllt werden können, ohne dass eigentlich etwas passiert. Idealer Schauplatz für dieses Erzählen kurz vor der Nullstufe ist, der Titel verrät es unmissverständlich, das Büro. Damit, so finden die müden Leserinnen und Leser, ist erstens schon alles gesagt und zweitens auch der Erzählstil vorweggenommen, der in den Romanen erbarmungslos sachlich und lakonisch über tausende von Seiten hinweg durch mehr als zwei Jahrzehnte Büroalltag führt. M.K., die Hauptfigur des Romans, geht ins Büro, jeden Tag, und warum er dies tut, weiß er genau so wenig wie den Grund dafür, dass er mit seiner Frau verheiratet ist. Weder seine Arbeit noch seine Ehe erfüllen ihn. (Die zeitliche Situierung der Romane in den 1950 bis -80er Jahren bringt es ironischerweise mit sich, dass dieses ausschließlich auf dem festen Arbeitsvertrag basierte Verhältnis zur Arbeit im inzwischen nicht mehr vom Beamtenstatus gekennzeichneten wissenschaftlichen Kontext angesiedelt ist.) Das Wichtigste vorab für die Leser und Leserinnen, die von der ersten Seite an die Müdigkeit beschleicht: Aus dieser aussichtslosen Lage wird es keinen Befreiungsschlag geben. Denn es ist genau die Spannung zwischen der völlig fehlenden intrinsischen Motivation und dem Umstand, dass M.K. dennoch immer weiter und weiter macht, die der Brennstoff ist, der die Romane, nun ja, „befeuert“. Er macht die Freude am Detail möglich, die sich gerade an der Absurdität der Lage labt. Das Geheimnis des Romans, so werden die Abhängigen rufen, ist das serielle Erzählen, welches wir in Bezug auf das Büro inzwischen auch aus Fernsehserien wie der BBC-Serie The Office mit ihren amerikanischen und deutschen Adaptionen kennen. Auch in diesen Serien führt eben der Umstand, dass nie etwas passiert und niemand so recht zufrieden ist mit seiner Lage, zu einer absurden Schicksalsgemeinschaft, in die auch die Lesenden des niederländischen Romanzyklus‘ nach einer ausreichenden Portion Binge Reading mit hineingezogen und aufgenommen werden. Der Bürodirektor und alle anderen Romanfiguren entwickeln sich zu einer Art Familienangehörigen, deren Gesellschaft wir gerade ob der Aussichtslosigkeit der Lage nicht mehr missen können. Ein ähnliches Gespür für die Sogwirkung depressiver Aussichtslosigkeit hat der niederländische Cartoonist Peter van Straaten entwickelt, der sinnlos fortdauernde, zerrüttete Paar- und Arbeitsbeziehungen in endlosen Bilderreihen festhält. Auf einem Bild sehen wir ein Paar im Bett, eine schwarze Katze im Vordergrund. Wie wir lesen, sagt die Frau zum Mann, ohne in seine Richtung zu sehen: „Ist dieses schreckliche Jahr immer noch nicht vorbei?“ Wer in Anbetracht des Jahreswechsels das Bedürfnis verspürt, diese Szene in unendlicher Variation virtuos vorgeführt zu bekommen, wird nicht einschlafen bei der Lektüre von sieben Romanen über das Büro- und Alltagsleben von M.K. Es ist die Frage, ob dies ein gutes Omen ist für das neue Jahr.
Ein Beitrag aus der Rubrik „Stiftung Jahrestest 2016“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen