Sehnsucht nach Geborgenheit
In ihrem 2015 erschienen Roman „Adèle“ erzählt Irene Ruttmann von einer ganz besonderen Liebe, die es eigentlich nicht geben darf
Von Barbara Swojanowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIhre Liebe ist ein Wunder. Aber sie ist verboten. Während um sie herum die Hölle des Ersten Weltkriegs tobt, schaffen sich der deutsche Drogist Max und die junge Französin Adèle eine Freistatt für das Atemholen und die Menschlichkeit.
Nach seinem Fronteinsatz an der Somme 1916, wo er als Krankenträger diente, wird der 20-jährige Max an einem kleinen Ort im besetzten Gebiet an der Aisne stationiert. Er hat die blutigste Schlacht des Ersten Weltkrieges, die im November ohne eine militärische Entscheidung abgebrochen wurde, zwar überlebt, doch die menschenunwürdigen Umstände, die dieser Krieg mit sich bringt, machen Max weiter zu schaffen. „Noch bin ich nicht in Stellung gewesen, aber ich habe schon Tode gesehen, die jedes Menschenherz erzittern lassen.“ Heimlich zeichnet und schreibt er sich das Erlebte von seiner erschütterten Seele. Und bewahrt sich damit gleichzeitig sein künstlerisches und naturverbundenes Wesen in einer aus Schachfiguren bestehenden „lehmgelben Masse“. „Das Wichtigste ist, dass der geistige Tod nicht vor dem leiblichen eintritt. Aber die Hüter des Militarismus werden uns schon noch den letzten Rest von Geist aus dem Gehirn blasen.“
Seine Sehnsucht nach Frieden und Menschlichkeit ist in jedem seiner Sätze spürbar.
Als er an einem Wintertag nach Kräutern sucht, um die Bauchschmerzen seiner Kameraden zu lindern, begegnet er Adèle:
Sie trug einen langen grauen Rock, die Füße steckten in schweren Männerschuhen […] und dann diese leuchtend rote dicke Jacke, die fuhr mir in die Augen, als hätte ich seit hundert Jahren das erste Rot wieder gesehen. Das viele Blut der letzten Monate zählt nicht. Das ist etwas völlig anderes.
Die junge Französin soll ihm bald seine Sehnsucht nach Frieden stillen. Denn bei dem Salbei, den sie ihm zunächst gibt, bleibt es nicht. Zu Cognac und einer warmen Mahlzeit lädt sie ihn des anderen Tages ein. Beide fühlen sich bald zueinander hingezogen. Wann immer es Max möglich ist, gesellt er sich nun zu ihr. Der Gefahr, entdeckt zu werden, zum Trotz. Ihr Haus wird schließlich zur gemeinsamen Freistatt für ihre zarte, heimliche und bedrohte Liebe. In ihrer Küche mit dem blumigen Kachelfries fühlt sich Max geborgen. Sie fungiert als heile, friedvolle Welt, in der das Leben wieder unbekümmert schön ist und voller menschlicher Wärme. In ihr hat Sprache keine Bedeutung. Ebensowenig die Vergangenheit der beiden: „Es ging immer nur um den Klang, und dass die Welt in Ordnung sein sollte, wenigstens zwischen uns.“ Bedeutungsvoll hingegen ist das kleine Wort „demain“. Es ist ihr gegenseitiges, stets wiederholtes Versprechen auf ein Wiedersehen. Und es verheißt Vorfreude, die gerade Max das Elend des Krieges erträglicher macht.
Wie in ihrem späten Romandebüt Das Ultimatum (2001) – das zu Zeiten des Kalten Krieges in Ostberlin spielt – erzählt die 83-jährige Irene Ruttmann auch in Adèle eine ergreifende, aber keineswegs kitschige Geschichte eines Liebespaars, dessen Innigkeit in großem Kontrast zu der zerrissenen Welt um es herum steht. Hier wie da gelingt es der Autorin mit ihrem geradezu schlichten Schreibstil, der ohne große Ausschmückungen oder erzählerische Kunstgriffe auskommt, zu berühren.
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