Eine Frau fürchtet sich

In Brigitte Kronauers Roman „Der Scheik von Aachen“ wird das Erzählen zur Trauerarbeit

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mir scheint ein großes Problem unserer Gegenwart zu sein, dass man mit so viel Sachen konfrontiert wird, mit so viel Menschen, und nicht nachkommt, wie wir es vielleicht eigentlich möchten, wirklich anteilnehmend diesen zum Teil auch Katastrophen gegenüberzustehen“, erklärte die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einem Interview vor drei Jahren. Da war gerade ihr Roman Gewäsch und Gewimmel erschienen. Ein gewaltiges Opus von 600 Seiten, das eine völlig neue Facette der Autorin offenbarte, denn so humorvoll und unangestrengt wie in diesem Roman war die Georg-Büchner-Preisträgerin des Jahres 2005 zuvor nie in Erscheinung getreten. Und auch in ihrem neuen Roman hält die gebürtige Essenerin an diesem Stil fest. Mit beeindruckender Beobachtungsgabe und großer sprachlicher Präzision hält Brigitte Kronauer die Balance zwischen Tragik und Komik.

„Die Frau fürchtet sich“, lautet der erste Satz des Romans, gesprochen von Anita Jannemann, einer Frau Anfang vierzig, die an der Universität Zürich als „Brückenbauerin“ zwischen den Fakultäten gearbeitet hat und der Liebe wegen in ihre Heimatstadt Aachen zurückkehrt. Ihre große Liebe, der passionierte Bergsteiger Mario, hat an der dortigen TU einen Lehrstuhl inne. Anita bewegt sich in ihrer alten Heimat in einem Umfeld, das geprägt ist von Trauernden, von Menschen, die nahe Angehörige verloren haben und sich mit dieser Schmerzbewältigung mehr als schwertun.

Ihre Tante Emmi hat früh ihren Sohn Wolfgang verloren, dessen Name auch dreißig Jahre nach dem Ableben nicht in ihrer Gegenwart erwähnt werden darf. Als Kind war er bei einem Sturz von einer Birke tödlich verunglückt. Um diese Tante und Protagonistin Anita tummeln sich noch die beiden alleinstehenden Brammertz-Männer (Onkel und Neffe) sowie der zum Zynismus neigende Kaufmann Marzahn.

Eine konventionelle Handlung existiert in diesem Roman nicht. Stattdessen erzählt man sich gegenseitig Geschichten. Es geht um den Umgang mit Verlusten zwischen unendlicher Trauer und zaghaften Versuchen des Neuanfangs. Die Vergangenheit wird „umerfunden“ und das Erzählen zum puren Selbstzweck. Die Fiktion wird zur Waffe gegen die Realität umfunktioniert, als Therapie zur Schmerzbewältigung, als Hoffnungsschimmer gegen die Omnipräsenz der Schwermut.

Legenden, Zufälle, Schicksalsfügungen und auch Anleihen aus der Literatur der Romantik prägen die kunstvoll arrangierte Szenerie. Anita hat als Kind das Wilhelm-Hauff-Märchen Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven just an jenem Tag gelesen, als ihr Cousin Wolfgang vom Baum stürzte und sich dabei ein Fahrtenmesser in den Bauch rammte. Sie sitzt nun häufig bei der betagten Tante, um sie mit Verdrängungsgeschichten zu „versorgen“, erzählt ihr Klatsch und Tratsch, aber auch umgedichtete Orpheus-Versionen. Dabei muss sich Anita an feste Regeln halten, bereits das Nichterwähnen des besagten Namens führt zu kniffligen Situationen. „Schon bei dem Wort ‚Hofgang‘, sogar bei ‚Walfang‘, wurde man rot vor Schreck.“

Irgendwann wiederholt sich das Schicksal und Anita muss sich selbst in die Phalanx der Trauernden einreihen, als ihr überperfekt gezeichneter Liebhaber Mario beim Erklimmen des kaukasischen Elbrus` abstürzt. Nichts hilft ihr wirklich über diesen Verlust hinweg – weder ihr vorübergehender Job im Kramladen des Zynikers Marzahn noch die Erzählnachmittage bei der Tante, und schon gar nicht der Ausflug in den nahen Braunkohletagebau mit dem „Trauerbänkler“ genannten Brammertz-Neffen, der sie für ein gemeinsames Heimatmuseum-Projekt gewinnen will.

Die Plauderstunden entbehren nicht einer gewissen Komik, doch Brigitte Kronauer hält hier ganz fein die Balance zwischen bitterem Ernst und subtilem Humor und gibt die Figur der Tante nicht der Lächerlichkeit preis. Ganz subtil reagiert Emmi, wenn ihr die Geschichten der Nichte missfallen.

Ab und an greift auch Brigitte Kronauer zu überpoetisierten, schrägen Tönen, etwa wenn Vögel „flöten wie Ganoven in alten Schwarz-Weiß-Filmen, als trügen sie karierte Schlägermützen auf dem Kopf“. Dennoch fasziniert dieser Roman durch beinahe magischen Erzählzauber. Die Figuren der leicht schrulligen Tante Emmi und des leidenschaftlich schwadronierenden Zynikers Marzahn sind dem Leben so präzise abgelauscht, dass man glaubt, sie aus der eigenen Nachbarschaft oder Verwandtschaft bestens zu kennen. Der Scheik von Aachen ist ein großes poetisches Buch, das um Trauer, Schmerz und Enttäuschungen kreist und in dem mit viel Leidenschaft ein Plädoyer für das Erzählen als „Seelen-Therapeutikum“ gehalten wird. „Wir wollen bezaubert werden“, erklärt der Kaufmann Marzahn geradezu paradigmatisch für dieses kunstvolle Kronauer-Werk.

Titelbild

Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016.
399 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783608983142

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