Lehrreiche Zeit in Berlin
Lea Goldberg erzählt in ihrem Künstlerroman „Verluste“ vom Leben eines jüdischen Intellektuellen in den letzten Tagen der Weimarer Republik und kurz nach der Machtergreifung
Von Galina Hristeva
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine „neuhebräische Ikone“ nannte Dan Diner die Schriftstellerin Lea Goldberg in einem Vorwort zum Buch Lea Goldberg. Lehrjahre in Deutschland 1930-1933 von Yfaat Weiss (Göttingen 2010). Und tatsächlich ist Lea Goldberg eine ungewöhnliche, beeindruckende literarische Erscheinung. In Königsberg geboren und in Litauen aufgewachsen, sprach sie viele Sprachen, studierte in Berlin und promovierte in Bonn. Bilder aus dieser Zeit zeigen eine sehr elegante, selbstbewusste junge Frau. 1933 ging Goldberg zuerst nach Litauen zurück, um sich dann 1935 für immer im damaligen vorstaatlichen Israel niederzulassen. In Jerusalem gründete sie 1952 die Abteilung für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität und leitete sie bis zu ihrem frühen Tod im Jahre 1970.
Hauptsächlich als Lyrikerin bekannt, schrieb Goldberg auch einige Prosawerke (etwa den Roman Und er ist das Licht, 1946), war Literaturkritikerin, Übersetzerin und Kinderbuchautorin. Auf Deutsch erschienen waren bisher nur ihre Briefe von einer imaginären Reise (Berlin 2003, ursprünglich 1936/1937 auf Hebräisch) und ihr Kinderbuch Zimmer frei im Haus der Tiere – Vier Tiere suchen einen Nachmieter(Berlin 2011, ursprünglich 1959 auf Hebräisch).
Hinter dem kuriosen Titel ihres Romans Verluste – Antonia gewidmet, den Lea Goldberg 1935 zu schreiben begann und der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, verbirgt sich das extravagante, verlustreiche und doch überaus typische Schicksal des jüdischen Intellektuellen Elchanan Jehuda Kron. Mit Kron, der sich in Berlin aufhält, kann man die Atmosphäre der deutschen Hauptstadt in den letzten Monaten der Weimarer Republik hautnah erleben, den scharfen Geruch von Staub und Benzin in den Berliner Straßen sowie den Qualm der Berliner Cafés einatmen und den Charme eines Berliner Frühlingsabends genießen. Überhaupt vibriert das ganze Buch Goldbergs (es beginnt mit der Feststellung „Er [Kron] konnte nicht mehr in Prosa denken.“) vor Sinnlichkeit und Lyrismus. Es ist ein Großstadt- und Berlinroman, der eigenwillig neue Akzente setzt. Denn Kron, der Moskau, die Verbannung nach Sibirien und das Leben in einer Gemeinschaftssiedlung in Galiläa hinter sich gelassen hat, ist ein „Rebell gegen das Kaisertum“ und ein „Philosoph, Dichter [und] Geistes-Observant“. Ein jüdischer Intellektueller und Orientalist, ein „Schriftsteller aus dem Volke Israel“, der nichts heißer ersehnt als das Wohlergehen für ein „kleines, gemartertes, aller Herren Länder durchirrendes Volk“.
Krons Leben in Berlin ist von Zweifeln, Unrast und von Begegnungen geprägt. Die Abende bei seinen Freunden, der Familie Berson, die Gespräche mit Professor Bracke oder im Café sprühen vor Debattierlust und intellektueller Brillanz. Man spricht über Wissenschaft, Politik und Kunst, über Freud und die Psychoanalyse, über Bildung, Verluste im Leben und über Erez Israel. Man versucht, die Leere nach den Verlusten mit neuem Sinn zu füllen. Man ist überzeugt, dass die Zeit Neues erfordert.
Die Universität dagegen, an der Kron seiner wissenschaftlichen Arbeit nachgeht, bietet ein anderes, unterschwellig bedrohliches Bild, welches auf dem Protagonisten buchstäblich körperlich lastet: „Der auf die Universität zufließende Menschenstrom staute sich in seinem Rücken. Jemand schubste ihn.“ Eines Tages verliert Kron an der Universität das hebräische Manuskript eines von ihm verfassten Gedichtes. Jemand, der in Kron immer „Beklemmungen“ auslöst, ist Doktor Bach: „Ein lebendiges Beispiel für die Pflichtbesessenheit des preußischen Stumpfsinns, die mit listiger, bäurischer, dickköpfiger Kombinatorik den abstoßendsten Typus dieses Landes hervorbrachte.“ Bach ist genau das Gegenteil von Kron, „vollkommen talentlos.“
Krons Begegnung mit der deutschen Studentin Antonia Dieterle in der U-Bahn dagegen ist vor dem Hintergrund der ihm zunehmend entgegenschlagenden Feindseligkeit überaus erfrischend. Ihr „wundersames“ kupferrotes Haar leuchtet ihm an der Uni, wo sie Archäologie und Islamische Kunstgeschichte studiert, entgegen, belebt seine Sinne und beflügelt seine Phantasie. Antonia ist jung, unerfahren, „ein kleines, liebes Mädchen“ ohne Verluste. In seinen „Antonia-Monaten“ kann er auch seine jüdische Ex-Frau Lilli vorübergehend vergessen und in Berlin das Gefühl der Fremdheit in der Emigration verdrängen: „Denn er ist fremd hier, ebenso wie er auf dem Rest der weiten Welt fremd ist.“ Noch einmal tritt Lilli im Roman in sein Leben, um dann, nach diesem „Intermezzo“, für immer zu verschwinden.
Ada, der neuen Frau in seinem Leben, begegnet Kron im jüdischen Viertel Berlins auf eine höchst ungewöhnliche Art und Weise. Die kürzlich verstorbene Ada Weiss – das erfährt er von ihrer Vermieterin – sei bis zu ihrem Tod eine treue Leserin und große Verehrerin des Dichters Elchanan Jehuda Kron gewesen. Kron erleidet hiermit einen weiteren Verlust, denn ihm wird klar, „dass ihm für alle Zeiten der einzige Mensch, der ihm je nahegestanden hatte auf der Welt, verlorengegangen war, unwiederbringlich verlorengegangen war“.
Vereinzelte in den Roman eingestreute antisemitische Phrasen, Vor- und Zwischenfälle sowie andere „Schändlichkeiten“, denen Kron ausgesetzt ist, erweisen sich schnell als Präludium zu den kurz darauf hereinbrechenden „unglückseligen Zeiten“. Nicht nur „das deutsche Kulturgebäude“, nein, ganz Deutschland bricht nun zusammen, als Kron in einer Zeitung „in gotischen Buchstaben“ das Datum 28. Januar 1933 liest. Goldberg präsentiert die darauf folgenden Ereignisse aus der Sicht jüdischer Wissenschaftler und Intellektueller. Erfüllt von der Sehnsucht danach, schöpferisch zu sein, verzweifeln sie immer mehr an Deutschland. Während ihre Welt nun endgültig einstürzt, erobert das „in grässlichem Deutsch“ geschriebene Buch des neuen Reichskanzlers, eines Mannes „von zweifelhaftem literarischem Talent, mit kurzem Schnauzbart und nebulöser Vergangenheit“, die Herzen. Es bricht die von Krons Freund Berson schon längst prophezeite „Herrschaft der Nullen“ an. Die „Komödie der Braunen“ übernimmt die Macht und vertreibt die Höhenflüge des Geistes.
Lea Goldbergs Roman ist ein Abgesang auf die letzten Tage der Demokratie in Deutschland. Ein Verfallsroman, der von Melancholie und von unzähligen Verlusten gekennzeichnet ist und den Untergang einer intellektuellen Welt in melodisch-poetischer, brillanter Prosa betrauert. Ihre Hauptfigur Kron ist eine gescheiterte Existenz, die nun wieder einmal den Boden unter den Füßen verliert. Er, dessen Vergangenheit im Laufe des Romans Stück für Stück aus der Rückschau rekonstruiert wird, gleicht einem „abgekoppelten Waggon“, der in den Abgrund zu drohen stürzt. Von Antonia kommen auch keine Briefe mehr, und es dauert nicht lange, bis er in Berlin über ein „rotes“, in den Farben des Reichstagsbrands leuchtendes „Dächermeer“ blickt. Die Zeichen der Zeit stehen auf Vernichtung, so viel ist Kron klar. Ein unheilvolles Schicksal wird auch sein verloren gegangenes Manuskript treffen – eins seiner größten Verluste.
Goldbergs Buch ist aber unmissverständlich auch der Tradition des Bildungsromans verpflichtet. Nach diesem „Schreckensjahr in der Fremde“ beendet Kron seine „Lehrjahre“ in Deutschland und zieht vor der Heimkehr nach Erez Israel noch einmal Bilanz – über Deutschland, über „all die Verbrechen“, über sich als Künstler, über die Dichtung und sein eigenes Dichten.
Lea Goldbergs Roman Verluste – Antonia gewidmet spiegelt die enorme Belesenheit der Autorin wider (sie war erst 24 Jahre alt, als sie ihn zu schreiben begann) und ist eine intellektuelle Herausforderung: mit seinen zahlreichen philosophischen Diskussionen und Reflexionen, mit seinem dichten Bildernetz, mit den vielen Wortspielen und Zitaten, mit seiner ganzen textuellen und intertextuellen Komplexität und Vielschichtigkeit, mit seiner großen, sich aus Bibel, chassidischer und arabischer Mystik sowie Philosophie speisenden Weisheit und Tiefe.
Dank auch der bemerkenswerten Arbeit der Übersetzerin Gundula Schiffer, die dem hebräischen Originaltext „leuchtende Konkretheit und große Plastizität“, „archaische Kantigkeit“ und „emotionale Wucht“ bescheinigt und diese auch wiedergibt, taucht man in eine Welt voller Schmerz, Sensibilität und Scharfsinn ein, aber auch in das „Lebenswasser“ des „reinigenden Seelensturms“ des Dichters Jehuda Elchanan Kron. Insgesamt ist der Autorin ein verstörender und aufregender, ein ernüchternder und zugleich erhebender, ein grandioser Roman gelungen.
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