Die Entdeckung der germanistischen Langeweile
Von Markus Steinmayr
Wir alle wissen, dass die Germanistik eine bürgerliche Wissenschaft ist; erfunden von Bürgern für Bürger. Es gibt literaturwissenschaftliche Projekte, wo das Geld der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger gut angelegt zu sein scheint: gesellschaftliche Relevanz, Kompetenzentwicklung von Studierenden, Grundlagenforschung; hier arbeitet das Wissenskapital und wird akkumuliert.
Es gibt aber auch literaturwissenschaftliche Projekte, wo das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in den unklaren Kanälen der germanistischen Hagiographie versickert ist; jedenfalls kommt man schnell zu dieser Einschätzung, wenn man nicht das kulturprotestantische Credo betet, das wie folgt lautet: Nach Bach und Goethe geht lange nichts, vielleicht, wenn es gut geht, noch Fontane.
Dass die Germanistik und auch die germanistische Forschung sehr, sehr lange diesem kulturprotestantischen Credo gefolgt ist, zeigt nicht nur, dass für eine gewisse Zeit die kulturell, politisch und literarisch höchst diverse Epoche des ausgehenden 18. Jahrhunderts „Goethezeit“ genannt worden ist, sondern auch ein Buch, das sich tatsächlich dem Leben der Geistesgröße Johann Wolfgang von Goethe von Tag zu Tag widmet.
Nun, das war eigentlich zu erwarten, nachdem Johann Peter Eckermann sich als erster Secretarius der deutschen Literatur bewiesen hat und der Langeweile der mit Goethe verbrachten Abende auf vielen ermüdenden Seiten beredt Ausdruck verliehen hat. ‚Gespräche mit Goethe‘ dies zu nennen, erscheint eigentlich etwas übertrieben: Eigentlich spricht Goethe nur mit sich selbst und über sich selbst.
Ein Leben, so kontingent, so langweilig, so interessant wie jedes andere Leben auch wird im hier inkriminierten Buch mikrologisch aufgewertet. Dem Eckermann’schen Projekt nicht unähnlich, wird hier jeder Tag wichtig, relevant, ja geradezu bedeutsam. Der Lektüre offenbaren sich die Routinen des Goethe’schen Lebens, die ja keine Routinen sind, weil sie aus dem Leben des Autors Goethe kommen. Es ist unerträglich, so etwas zu lesen. Man kann sich den Bürger als Leser hier genau vorstellen: Er oder sie verneigt sich mit spitzem Bleistift vor dem Tagesablauf des Dichters, liest das Feuilleton überregionaler Zeitungen und ruft dann die Freundinnen und Freunde an, um sich zum nächsten Theaterbesuch zu verabreden. Arbeiten Leserinnen und Lesern an Bildungsanstalten, ist ihr Redemodus der der Klage bzw. der kulturellen Endzeit: Die Standards von Leben, Literatur und Schrift werden nicht mehr erfüllt, die Klientel, die nun in den Klassen oder Seminaren sitzt, wird uns immer unähnlicher, die Leute haben keinen Geschmack mehr oder sind unfähig, ästhetische Erfahrungen zu machen, weil ihnen die Intimisierung des Verhältnisses zu Goethes Gedichten nicht gelungen ist. Leserinnen und Leser von Goethes Tagen treffen sich dann, um gemeinsam für das Wahre, das Schöne und manchmal auch für das Gute zu sorgen. Dass sie dabei immer unter sich bleiben, stört sie nicht. Ihr Leben kann man sich nur als sehr langweilig vorstellen.
Ein Beitrag aus der Rubrik „Stiftung Jahrestest 2016“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen