How does it feel?

Todesszenarien und Künste der Emotionalisierung in den Songs von Bob Dylan

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Scherenschnitt von Simone FrielingDie Fragestellung dieses Beitrags aus Anlass der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan am 10. Dezember 2016 könnte durch den Refrain eines seiner bekanntesten Songs vorgegeben sein:

How does it feel
How does it feel
To be on your own
With no direction home
Like a complete unknown
Like a rolling stone?

How does it feel? Die Frage bezieht sich in diesem Beitrag aber nicht wie in dem Song auf die Situation des Alleinseins und der Heimatlosigkeit, sondern auf eine andere: auf die der Hörer oder auch Leser von Bob Dylans Songs. Wie fühlt es sich an, Songs Bob Dylans zu hören oder auch zu lesen? Oder etwas komplexer gefragt: Mit welchen künstlerischen Mitteln wollen oder können diese Songs bei ihren Adressaten welche Emotionen hervorrufen?

Als Literaturwissenschaftler mit entsprechend eingeschränkten oder spezialisierten Kompetenzen konzentriere ich mich dabei auf die Texte und nicht auf die Musik – im Wissen allerdings, dass damit wesentliche Aspekte von Bob Dylans Emotionalisierungskünsten unberücksichtigt bleiben. Dazu nur ein paar kurze Hinweise: Musik und Text können sich in der Evokation bestimmter Emotionen ergänzen und gegenseitig verstärken. In dem „Song to Woody“, einem dem todkranken Woody Guthrie gewidmeten Lied, stehen Verse, die vom Sterben einer alten Welt sprechen:

Hey, hey, woody guthrie, I wrote you a song
’bout a funny old world that’s a-comin’ along
Seems sick and it’s hungry, it’s tired and it’s torn
It looks like it’s a-dyin’ and it’s hardly been born.

Die Melodie basiert auf Woody Guthrie’s Song „1913 Massacre“ über den Tod von Minenarbeitern und ihren Familien während einer Weihnachtsfeier und verstärkt dadurch die emotionale Wirkung der im Text nur schwach ausgebildeten Todesmotivik. Gerade bei Bob Dylan finden sich aber viele Beispiele, bei denen sich die Emotionalisierungen durch Text und Musik auch gegenseitig unterlaufen. „Forever young“ beispielsweise mit dem Vers „May your heart always be joyful“ hat in der bekanntesten Version musikalische Merkmale, die nach musikpsychologischen Einsichten tendenziell Traurigkeit und nicht Freude evozieren: tiefe Grundfrequenzen und wenige Obertöne, geringe Lautstärke, langsames Tempo. Das klingt eher nach melancholischem Verlust von Jugendlichkeit und Bewusstsein des sich nähernden Todes. Umgekehrt evoziert der zitierte Text des Refrains in „Like a Rolling Stone“ mehr Traurigkeit als die musikalische Darbietung.

Wie macht er das? Mit welchen Techniken der Emotionalisierung arbeitet dieser Song-Schreiber, der einmal erklärte: „Es geht nicht darum, zu verstehen, was ich schreibe, sondern es zu fühlen.“

Eine der wichtigsten literarischen Emotionalisierungstechniken besteht darin, bei Rezipienten Vorstellungen von Szenarien hervorzurufen, die ähnlich wie entsprechende reale Szenarien eine große Emotionalisierungskraft haben. Neben Liebesszenarien haben Todesszenarien in den Songs Bob Dylans einen zentralen Stellenwert. Szenarien, in denen jemand tötet oder getötet wird, um sein Leben oder um das Leben anderer fürchten muss, eines natürlichen Todes stirbt, einen Toten betrauert oder auch erleichtert oder sogar froh ist, wenn andere sterben, sind allerdings in literarischen Texten generell verbreitet. Gründe dafür, warum Autoren ihre Figuren so oft sterben lassen und warum Leser sich das gerne gefallen lassen, gibt es viele. Einer der wichtigsten dürfte sein, dass der Tod in literarischen Texten – neben und oft zusammen mit der Liebe – ein Ereignis mit kaum zu überbietender, sozusagen todsicherer Emotionalisierungskraft ist.

In der 2011 erschienenen Dylan-Biographie von Tino Markworth ist mehrfach von der Bedeutung des Todesthemas vor allem in Bob Dylans frühesten Songs die Rede. Markworth spricht, ähnlich wie schon Heinrich Detering in seiner 2007 erschienenen Einführung in das Werk Bob Dylans, von einer Obsession, von der „Todesobsession“ seiner ganzen Generation, hervorgerufen durch die Ängste der Jugend vor einem Atomkrieg. „Zu der Todesobsession seiner Generation gesellten sich Dylans persönliche Ängste vor einem jähen Ende, die in seinen Kindheitserfahrungen wurzelten. Er hatte miterlebt, wie von einem Tag auf den anderen die Hoffnungen und Träume seines Vaters zerstört wurden. Tagtäglich, wenn er Abe humpeln sah, wurde er mit der Möglichkeit des plötzlichen Endes eines einst vielversprechenden Lebens konfrontiert. Der Tod wurde zu einer Manie Dylans.“ Dylan selbst schrieb über sich: „eigentlich hatte ich am meisten Angst vor dem Tod in jenen ersten Jahren in New York“. Die Kubakrise im Oktober 1962 bestätigte und verstärkte solche Ängste. „Dylans Todesängste“, so Markworth, trieben ihn „zur Eile an, seine künstlerische Botschaft rasch unter die Leute zu bringen.“ Dylan selbst bekannte: „Ich wollte nicht sterben. Ich flog im Flugzeug mit dem Wunsch, nicht zu sterben, denn ich hatte noch etwas zu sagen. […] Ich wollte jemand sein, den man nicht vergessen würde.“

Die Häufigkeit von Todesmotiven ist allerdings nicht nur für die frühen Songs Bob Dylans kennzeichnend. Szenarien des Tötens oder des Getötetwerdens, des Verlustes geschätzter oder geliebter Personen, gefallene Soldaten, Opfer der herrschenden, lebensfeindlichen Moral, zum Töten verführte Mörder, Gräber, apokalyptische Motive, Personifikationen des Todes oder Metaphorisierungen (Tod als ungelebtes Leben) bleiben konstitutiv für sein gesamtes Werk. Schon an etlichen Song-Titeln lässt sich das ablesen: „License To Kill“ (aus dem Album „Infidelis“), „Dead Man, Dead Man“ (aus dem Album „Shot Of Love“), allegorisch im Titel „Man In The Long Black Coat“ (aus „Oh Mercy“), „Death Is Not The End“ (aus „Down In The Groove“), „Talkin‘ Bear Mountain Picnic Massacre Blues“, „The Lonesome Death Of Hattie Carroll“, „The Death Of Emmett Till“, „Let Me Die In My Footsteps“. Viele Songs platzieren Todesszenarien exponiert gleich zu Beginn oder zum emotional effektvollen Abschluss in einzelnen Versen, ganzen Strophen oder in Refrains. Am populärsten „Blowin’ In The Wind“:

Yes, and how many deaths will it take ‚til he knows
That too many people have died?
The answer, my friend, is blowin‘ in the wind
The answer is blowin‘ in the wind

Gelegentlich werden Todesmotive eher beiläufig und zuweilen überraschend mitten im laufenden Text präsentiert. So in „It’s Alright, Ma“:

Pointed threats, they bluff with scorn
Suicide remarks are torn
From the fool’s gold mouthpiece the hollow horn
Plays wasted words, proves to warn
That he not busy being born is busy dying

Biographische oder zeitgeschichtliche Hinweise haben für Bob Dylans Todesobsession aber nur einen begrenzten Erklärungswert. Ihnen gegenüber lässt sich eine andere Erklärung stark machen: Es ist das Emotionalisierungspotential von Todesmotiven und -szenarien, das den Songpoeten zeit seines Lebens über alle Wandlungen hinweg gereizt und das er immer wieder eingesetzt hat, nicht zuletzt in den Adaptionen biblischer Mythen.

Die Erfolgsgeschichte des Alten und des Neuen Testaments verdankt sich wohl nicht zuletzt der emotionalisierenden Kraft von erschreckenden, empörenden oder traurigen Todesszenarien. Bob Dylan hat sie schon vor seiner bekennend christlich-evangelikalen Phase aufgegriffen – und auch noch danach. Da ist die Geschichte Abrahams und Isaaks, von Dylan in „Highway 61“ allerdings ins Komische uminszeniert:

Oh God said to Abraham, „Kill me a son“
Abe says, „Man, you must be puttin‘ me on“
God says, „No.“ Abe says, „What?“
God says, „You can do what you want Abe, but
The next time you see me comin‘ you better run“
Well Abe says, „Where do you want this killin‘ done?“
God says, „Out on Highway 61.“

Da ist das apokalyptische Szenario in „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, dem Song, den Bob Dylans Freundin Patti Smith in Stockholm bei der Vergabe des Literaturnobelpreises an seiner Stelle sang:

I‘ve been out in front of a dozen dead oceans,
I‘ve been ten thousand miles in the mouth of a graveyard,
And it’s a hard, and it’s a hard, it’s a hard, and it’s a hard,
And it’s a hard rain’s a-gonna fall.

(https://www.youtube.com/watch?v=DVXQaOhpfJU)

Oder da steht der in „Precious Angel“ (aus „Slow Train Coming“) an das Szenario der Kreuzigung von Christus erinnernde Vers über „the Man who came and died a criminal’s death“. Und der letzte Vers mit der Anspielung auf den Judaskuss in der alternativen Fassung von „Gonna Change My Way Of Thinking“ lautet: „A brave man will kill you with a sword, a coward with a kiss.

Bei Untersuchungen zur Wahrnehmung solcher Anspielungen und generell zu den Informationsverarbeitungsprozessen beim Lesen oder Hören operieren kognitionspsychologische Konzepte, auf die auch die jüngere Emotionspsychologie vielfach zurückgreift, mit dem Begriff der Inferenz (von lat. inferre, wörtl. hineintragen). Der Begriff ersetzt und präzisiert inzwischen vielfach den phänomenologischen Begriff der Konkretisierung von Leer- oder Unbestimmtheitsstellen in Texten, wie ihn in der Literaturwissenschaft vor allem Wolfgang Iser verbreitet hatte. ‚Inferenz‘ meint, dass die vom Text vermittelten Informationen über bestimmte Sachverhalte, die zum Beispiel in den Songs Bob Dylans oft kryptisch und vage bleiben, beim Lesen bzw. Hören ergänzt und vervollständigt werden müssen, um sie in einen kohärenten Sinnzusammenhang zu integrieren. Beim Lesen wird den textuellen Informationen vom Rezipienten ständig etwas schlussfolgernd hinzugefügt. Solche Inferenzen erfolgen unter anderem auf der Basis eines mental gespeicherten, schematisierten und daher rasch abrufbaren Wissens über typische Situationszusammenhänge und Ereignisabfolgen (frames oder scripts), eines Wissens, das über seinen kognitiven Gehalt hinaus mit der Aktivierung bestimmter Emotionen und Emotionsabläufe gekoppelt ist, beim „Judaskuss“ zum Beispiel mit Empörung über den Verräter und sein hinterhältiges Verhalten oder Verachtung seiner Person, mit Genugtuung, dass er eventuell bestraft wird, oder Bedauern mit dem Betrogenen.

Wer wird durch die (mit welchen Mitteln der Kunst auch immer herbeigeführten) Imagination solcher Szenarien (oder Anspielungen auf sie) emotionalisiert? Zunächst liegt die Antwort nahe: das Publikum. Aber ein Mittel, andere zu emotionalisieren ist nach alten Einsichten der Rhetorik, selbst Emotionen zu haben und zu zeigen. Horaz gab in seiner „Ars poetica“ eine berühmt gewordene Empfehlung, auf die man sich im 18. Jahrhundert immer wieder berief und die in der bildenden Kunst, in der Literatur und vor allem in der Schauspielkunst die Entwicklung von autosuggestiven Psychotechniken zur Selbstemotionalisierung des Künstlers forcierte – mit dem Ziel, die Emotionalisierung der Rezipienten zu optimalisieren: „Willst du, dass ich weine, so traure erst einmal selbst.“ („Si vis me flere, dolendum est / Primum ipsi tibi.“) Jean-Baptiste Du Bos, der mit seinen „Kritischen Betrachtungen über die Poesie und Malerei“ (1719) zum wohl einflussreichsten Pionier einer psychologischen und protoempirischen Ästhetik wurde, die im 18. Jahrhundert die emotionale Wirkung zur zentralen Funktion der Künste erklärte, beschrieb die Fähigkeit, „die anderen Menschen nach Belieben zu bewegen“, so: „diese kommt hauptsächlich dadurch zustande, dass man selbst von den Gefühlen bewegt und durchdrungen erscheint, die man bei ihnen hervorbringen will […]. Es ist ein Gefühl des anderen, das uns bewegt.“ Wo dem Künstler solche Gefühle fehlen, muss er sie in sich selbst zumindest so weit stimulieren, dass er von ihnen durchdrungen „erscheint“. Und wenn es ihm sogar vergönnt ist, durch entsprechende äußere Umstände oder perfektionierte Techniken der Selbstemotionalisierung von ihnen tatsächlich durchdrungen zu sein, ist seine Emotionalisierungskunst geniehaft über jegliche Beachtung rhetorischer Emotionalisierungsrezepte erhaben.

Bob Dylan suchte sich aus Zeitungen, aus literarischen Texten, auch denen der Bibel, sowie durch zuweilen zerstörerische Inszenierungen des eigenen Lebens permanent Geschichten, die auch für ihn selbst eine emotionalisierende Kraft hatten. Emotionen im Zusammenhang mit Liebe und Tod gelten wohl nicht zu Unrecht als künstlerische Produktivkraft. Bob Dylan suchte geradezu zwanghaft danach – im Wissen, dass sie zusammen mit der eigenen Kreativität auch deren emotionalisierende Wirkung auf andere verstärken konnte. Emotionen sind eben nicht nur Reaktionen auf Umweltereignisse (wie die atomare Bedrohung) oder auf Texte, sondern auch Mittel, Macht über die Emotionen anderer zu gewinnen.

Zu den Künsten der Selbstemotionalisierung und der Emotionalisierung anderer gehört das Sichhineinversetzen in prototypische Szenarien, die mit dem Tod verbunden sind. In der analytischen Beschreibung solcher Szenarien treffen sich narratologische und psychologische Interessen. Der Frage, welche Emotionalisierungspotentiale der Tod in literarischen Texten hat, lässt sich durch die Unterscheidung diverser Muster von Todeszenarien und der mit ihrer Wahrnehmung dominant verbundenen Emotionen nachgehen. Ein typisches Szenario stellt den Tod als zukünftige, bedrohliche Möglichkeit vor Augen. Bei den vom Tod Bedrohten oder denen, die ihnen nahe stehen, dominiert hier in der Regel die Emotion ‚Angst‘, allerdings oft gemischt mit Hoffnung, der Bedrohung entgehen zu können. Diese Mischung ist charakteristisch für das emotionale Phänomen ‚Spannung‘, die in der Tradition der Rhetorik als eine Kombination von metus und spes, Furcht und Hoffnung, beschrieben wird. Die erste Strophe des „Billy“-Songs in dem Film „Pat Garret and Billy the Kid“ exponiert ein derartiges Szenario:

There’s guns across the river aimin’ at ya
Lawman on your trail, he’d like to catch ya
Bounty hunters, too, they’d like to get ya
Billy, they don’t like you to be so free

In apokalyptischen Szenarien, in denen nicht nur eine einzelne Person bedroht ist, erscheint der kollektive Tod meist unausweichlich, aber die Angst vor ihm kann durch Hoffung auf ein weiteres Leben nach dem Tod gemildert werden. „Death is Not The End” heißt ein Song aus Dylans „Down in the groove” mit den Versen:

When the cities are on fire
With the burning flesh of men
Just remember that death is not the end

Andere emotionale Befindlichkeiten angesichts eines nicht mehr abzuwendenden Todes sind heroisch-trotziges Aufbegehren gegen die Überwältigung durch Todesangst, der damit verbundene Stolz, Gefühle des Erhabenen oder Steigerung der Lebenslust: „Let Me Die In My Footsteps“ evoziert einige dieser Emotionen:

I will not go down under the ground
Cause somebody tells me that death’s comin‘ ‚round
An‘ I will not carry myself down to die
When I go to my grave my head will be high,
Let me die in my footsteps
Before I go down under the ground.

Von Szenarien, in denen der Tod ein zukünftiges Ereignis sein kann, lassen sich Szenarien unterscheiden, in denen der Tod als gegenwärtiger Vorgang gezeigt wird, also Szenarien des Sterbens. Diese sind häufig Trennungs- und Abschiedsszenarien und unterscheiden sich tendenziell von den zuvor beschrieben dadurch, dass der nahe Tod unabwendbar ist und nur noch die emotionale Einstellung der in die Szenerie involvierten Figuren und der Leser dazu variieren kann. In hoher Abhängigkeit von den dargestellten Todesarten und den Arten ihrer Darstellung sind sie offen für ganz unterschiedliche Arten von Emotionen. „Knockin’ on Heaven’s Door“ ist dafür ein anrührendes Beispiel: ein mit Trauer verbundenes Abschiedsszenario, die Evokation einer Liebe zwischen Mutter und Sohn, die Milderung der Trauer durch Hoffnungen auf ein neues Leben nach dem Tod:

Mama, put my guns in the ground
I can‘t shoot them anymore.
That long black cloud is comin‘ down
I feel like I‘m knockin‘ on heaven’s door.

In einem dritten Muster von Todesszenarien ist der Tod ein vergangenes Ereignis. Erinnerungs- und Verlustszenarien sind dominant mit Trauer verbunden, zuweilen auch mit Schuldgefühlen, wenn die Überlebenden sich für den Tod einer Person mitverantwortlich fühlen, oder mit Wut auf andere, denen die Schuld an dem Tod zugeschrieben wird. Bob Dylans Ballade „The Lonesome Death Of Hattie Carroll” reflektiert neben der Evokation unterschiedlicher Emotionen wie Angst, Trauer, Wut und Scham deren Angemessenheit in Erinnerung an einen Mörder, den die Justiz empörend niedrig bestraft hat, und an sein armes Opfer Hattie Carroll:

William Zanzinger killed poor Hattie Carroll
With a cane that he twirled around his diamond ring finger
At a Baltimore hotel society gath‘rin‘
And the cops were called in and his weapon took from him
As they rode him in custody down to the station
And booked William Zanzinger for first-degree murder
But you who philosophize disgrace and criticize all fears
Take the rag away from your face
Now ain‘t the time for your tears.

Den Refrain der letzten Verse variiert die vierte und letzte Strophe nach der Verkündung des skandalös milden Urteils so:

Oh, but you who philosophize disgrace and criticize all fears
Bury the rag deep in your face
For now’s the time for your tears

Abgesehen davon, dass hier dem abstrakten Philosophieren über und der rationalen Kritik an Emotionen die emotionale Anteilnahme an dem erzählten Geschehen und den beteiligten Figuren entgegengesetzt wird, ist die Ballade auch im Hinblick auf einige Regeln aufschlussreich, denen literarische Emotionalisierungskünste seit Jahrhunderten folgen. Bereits die Poetik des Aristoteles hat sie im Blick auf Tragödien und ihre Absicht formuliert, Mitleid und Furcht zu erregen (oder wie immer eleos und phobos angemessen zu übersetzen sind). Im Dienst dieser Emotionalisierungsabsichten steht eine Reihe von literarischen Techniken, die Aristoteles in Form von zum Teil präskriptiven, zum Teil deskriptiven Aussagen formulierte. Sie lassen sich so umformulieren, verallgemeinern und ausweiten, dass sie literarische Emotionalisierungskünste nicht nur der Tragödie, sondern auch vieler anderer Texttypen tangieren. Drei Formulierungen von Regeln, die auch für die Songs von Bob Dylan gelten, könnten so lauten:

1. Literarische Texte evozieren Angst, wenn Figuren, die sie zu Sympathieträgern machen, vom Tod bedroht sind.

2. Literarische Texte evozieren Mitleid oder Trauer, wenn Figuren, die sie zu Sympathieträgern machen, sterben.

3. Literarische Texte evozieren Empörung und Wut, wenn Sympathieträger durch das Verschulden von Antipathieträgern sterben.

Ein Beispiel für die erste Regel ist der bereits zitierte „Billy“-Song, der zweiten und dritten Regel folgt wie die Ballade „The Lonesome Death Of Hattie Carroll” auch die über den „Tod von Emmett Till“:

‚Twas down in Mississippi not so long ago,
When a young boy from Chicago walked through a Southern door.
This boy’s fateful tragedy you should all remember well,
The color of his skin was black and his name was Emmett Till.

Some men they dragged him to a barn and there they beat him up.
They said they had a reason, but I disremember what.
They tortured him and did some things too evil to repeat.
There was screaming sounds inside the barn, there was laughing sounds out on the street.

Auch hier das Mitleid mit dem Opfer der rassistischen Gewalt und die Empörung über die Mörder und über eine Justiz, die ihnen zur Seite steht!

Eine vierte Regel besagt, dass literarische Texte Genugtuung, Erleichterung oder Freude evozieren, wenn Figuren, die sie zu Antipathieträgern machen, sterben. Rachephantasien am Ende von Bob Dylans Ballade über das „Picknick Massaker“ auf dem Bärenberg sind dafür ein typisches Beispiel. Hier wird den am Tod anderer schuldigen Geschäftemachern der Tod gewünscht:

Now, it don’t seem to me quite so funny
What some people are gonna do f’r money
There’s a bran’ new gimmick every day
Just t’ take somebody’s money away
I think we oughta take some o’ these people
And put ’em on a boat, send ’em up to Bear Mountain . . .
For a picnic

Regelformulierungen dieser Art, die sich ergänzen, modifizieren oder auch in ihrem Geltungsbereich einschränken lassen, sind nur wenige Beispiele aus einem komplexen Geflecht möglicher Annahmen über die Verwendung und die Wirkung literarischer Emotionalisierungstechniken, denen auch Bob Dylans Songs entsprechen. Sie lassen sich als Angebote zur spielerischen Erprobung und Ausbildung emotionaler Kompetenzen verstehen, die uns in risikoreicheren Interaktionen mit sozialen und natürlichen Umwelten ständig abverlangt werden. Lessing hatte im 18. Jahrhundert die Rezeption von Trauerspielen als Einübung in Mitleidsfähigkeit konzipiert und ihr dabei durchaus handlungsrelevante Wirkungsmöglichkeiten zugeschrieben. In dieser Tradition hat zum Teil auch Bob Dylan geschrieben und musiziert. Ein Lied gegen die Mitleidslosigkeit ist „What Good Am I?“ (aus „Oh Mercy“) mit den abschließenden Versen:

What good am I if I say foolish things
And I laugh in the face of what sorrow brings
And I just turn my back while you silently die
What good am I?

Nachbemerkung: Der Beitrag greift zurück auf einen unveröffentlichten Vortrag bei einer von Dieter Lamping und Sascha Seiler geleiteten Tagung zu Bob Dylans 70. Geburtstag. Sie fand im Mai 2011 unter dem Titel „Bob Dylan und die Revolution der populären Musik“ an der Universität Mainz statt. Die Songtexte werden zitiert nach Bob Dylan: Lyrics 1962-2002. Sämtliche Songtexte. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Gisbert Haefs. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.