Der sephardische Jude Joseph Nasi in Konstantinopel
Wu Ming erzählen in „Altai“ aus einem wenig bekannten Kapitel der Geschichte
Von Tobias Gunst
Besprochene Bücher / Literaturhinweise14 Jahre ist es her, dass in Deutschland ein Roman mit dem seltsamen Titel Q erschienen ist. Am Ende des Romans hatte der Leser mit dem namenlosen Ich-Erzähler nach 700 temporeich erzählten und spannenden Seiten auf das Konstantinopel des Jahres 1555 geschaut und begonnen zu verstehen, dass europäische Geschichte künftig immer mit der globalen Geschichte zusammengedacht wird werden müssen. Am Ende von Q steht der Beginn der Moderne.
Es mag ein Zufall sein, dass die Fortsetzung von Q – Altai – ihre Protagonisten 14 Jahre später wieder trifft, wenn der Namenlose alt geworden und ein neuer Ich-Erzähler an seine Stelle getreten ist. Der Erzähler des Nachfolgers also ist Spion in Diensten der Republik Venedig, seine Herkunft liegt für den Leser und ihn selbst weitgehend im Dunkeln, durch Zufall wird er zum Republik-Verräter, plötzlich zum Flüchtling und findet sich schließlich in Konstantinopel als Protegé von Joseph Nasi, Neffe der berühmten Sephardin und Bankiersfrau Gracia Nasi, die vor allem in Q eine große Rolle gespielt hatte, wieder. Mit dem Erzähler erlebt der Leser den zunehmenden Einfluss Nasis auf den osmanischen Sultan Selim II., die Vorbereitung des Krieges der Türken gegen Venedig um Zypern und den darauf folgenden Abstieg Nasis mit der Zerschlagung seines Traumes, eine Heimat für die vertriebenen und verfolgten Juden zu schaffen.
Altai bietet damit ein historisches Panorama, was sich nur über rund drei Jahre erstreckt, das aber dennoch sehr voraussetzungsreich ist und den Leser zur Auseinandersetzung mit wenig bekannten Kapiteln der Geschichte zwingt. Die Verflechtung der frühneuzeitlichen europäischen Geschichte mit dem Osmanischen Reich ist zwar weitgehend bekannt, eine interessante Erweiterung erfährt dieses Bild jedoch durch die zentrale Stellung Joseph Nasis im Roman. Die für die frühe Neuzeit zentrale Problematik der sephardischen Juden, ihr Einfluss und ihre Flüchtlingserfahrungen, aber auch der unbedingte Wunsch, endlich ein eigenes Territorium zu besitzen, sind Keimzellen dessen, was wir heute als Nahostkonflikt kennen und vergeblich versuchen, zu verstehen. Ähnlich wie schon bei Q gelingt dem Autorenkollektiv Wu Ming in Altai etwas ganz erstaunliches: einen zentralen Abschnitt der Geschichte mit weitreichenden Folgen für die Gegenwart in unterhaltsamer, lesbarer und spannender Manier literarisch zu verarbeiten.
Literatur, darauf haben Wu Ming immer wieder hingewiesen, muss im Dienste der Gesellschaft, der multitude stehen, muss Narrative bieten, die uns unsere Wurzeln und unsere kollektive Identität präsentieren und gleichzeitig Gegenentwürfe zu herrschenden Erzählmustern bilden. Erzählen ist für Wu Ming immer soziale Praxis – und führt deshalb auch zu formaler Beschränkung und relativ klassischem Erzählen. Ästhetische Experimente, formaler Eskapismus oder komplexe narrative Techniken widersprechen der Poetik des Kollektivs, was von der Kritik über die Jahre nicht immer positiv aufgenommen wurde. Regelmäßig beklagten Kritiker die zu konservative Erzählhaltung, die nach bekannten Mustern aufgebauten Plots und die sich bei Unterhaltungsliteratur bedienenden, relativ platten spannungserzeugenden Mittel.
All das lässt sich auch bei Altai nicht von der Hand weisen: Der Roman ist konservativ erzählt und bedient sich altbekannter narrativer Muster. All das hat jedoch seinen Grund in der Überzeugung des Kollektivs, nicht für eine akademische Elite, sondern eine breite Leserschaft zu schreiben. Und diese Zielsetzung erfüllt Altai auf fulminante Art und Weise: Liebhabern des historischen Romans kann der vor sieben Jahren auf Italienisch, nun endlich auch auf Deutsch bei Assoziation A erschienene Roman nur wärmstens empfohlen werden. Weitere Übersetzungen von Wu Ming-Romanen sollen bei Assoziation A folgen – ein Projekt, was mit Nachdruck zu unterstützen ist. Denn das italienische Autorenkollektiv gehört zweifelsfrei zu den wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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