Etwas gerät ins Rutschen
In seinem Debütroman „Die Gesichter der Wahrheit“ erzählt Donal Ryan aus 21 Einzelperspektiven, wie die irische Finanzkrise das Land und seine Menschen veränderte
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGanz nahe heran an die Immobilien- und Finanzkrise, die Irland zwischen 2007 und 2013 erschütterte, führt Donal Ryan (Jahrgang 1976) den Leser in seinem Debütroman Die Gesichter der Wahrheit. Statt auf beängstigende Fakten und Zahlen blickt sein Buch in die Gesichter und Seelen von 21 Menschen, die mit ihren durch die Krise veränderten Lebensbedingungen in einem kleinen Ort zurechtkommen müssen. Von einem Tag auf den anderen ist der Immobilienboom, der ihnen allen ein bescheidenes Einkommen sicherte, in sich zusammengebrochen. Während der Chef der örtlichen Baufirma sich absetzte, müssen seine Angestellten mit der Tatsache leben, dass er ihnen nicht nur die letzten Löhne schuldig blieb, sondern auch Abgaben an die Behörden nicht ordnungsgemäß tätigte, sodass selbst der Bezug von Arbeitslosengeld nicht gesichert ist.
Zurückgeblieben als trauriges Symbol für eine endgültig vergangene Zeit ist eine Geistersiedlung von 44 Häusern. Allein zwei davon sind fertiggestellt und bewohnt. Der Rest beginnt bereits, langsam zu verfallen. Zwischen den Häusern wuchert das ungeschnittene Gras. Bobby Mahon, Vorarbeiter und treibende Kraft in der pleite gegangenen Firma des labilen, unfähigen und feigen Pokey Burke, dem es nur darum ging, im Boom schnell die eigenen Taschen zu füllen, ist weit und breit der Einzige, der angesichts der Situation nicht resigniert. Viele der anderen Figuren, mit deren Augen man auf das Desaster blickt, haben dagegen längst aufgegeben, lassen sich treiben und versuchen mit Drogen und Alkohol ihre Ohnmacht zu vergessen. Gewalt ist an der Tagesordnung. Wo der Schuldige nicht mehr zu greifen ist, müssen Familienmitglieder oder Nachbarn herhalten, wenn jemand seine Wut abreagieren will.
Mit großer handwerklicher Souveränität verflicht Ryan seine 21 Figurenreden miteinander, sodass unterm Strich so etwas wie die kollektive Geschichte der kleinen Gemeinschaft entsteht. Deren Eckpfeiler sind nicht nur die familiären und freundschaftlichen Beziehungen der einzelnen Figuren untereinander, die dem Leser allein mit ihrem Vornamen über dem jeweiligen Kapitel vorgestellt werden, sondern auch Bezugnahmen auf Ereignisse in der äußeren Welt. Diese sind so geschickt in den einzelnen Textabschnitten platziert, dass sich – was bei der gewählten Kompositionsweise nicht selbstverständlich ist – sogar eine fortlaufende Handlung extrahieren lässt.
Die kreist zum einen um die Anstrengungen Bobby Mahons, für sich und die Seinen einen gangbaren Ausweg aus der Krise zu finden, zum anderen um zwei Verbrechen – den Mord an Bobbys Vater und die Entführung des Kindes einer in der neuen Siedlung allein lebenden jungen Frau. Es sind extreme Reaktionen auf eine extreme existentielle Gefährdung. Und sie zeigen, wie brüchig zivilisatorisches Miteinander werden kann, wenn es buchstäblich ans Eingemachte geht.
Doch nicht nur die äußere, durch die gesellschaftliche Fehlentwicklung herbeigeführte Not lässt Donal Ryan seine Figuren kommunizieren. Indem er Alte und Junge, Männer und Frauen, den Kampf Aufnehmende und sich in ihr Schicksal willenlos Ergebende, ja selbst einen Toten in jeweils voneinander abweichenden Tonlagen über ihr zurückliegendes Leben reflektieren lässt, kommen auch menschliches Versagen, Feigheit und Verrat, Lügen und (Selbst-)Betrug ans Licht.
Der Züricher Diogenes Verlag, der sich des Werks von Donal Ryan im deutschsprachigen Raum angenommen hat und mit Anna-Nina Kroll eine einfühlsame Übersetzerin für desssen Bücher fand, hat Die Gesichter der Wahrheit erst nach dem im Original ein Jahr später erschienenen Roman Die Sache mit dem Dezember (2015) herausgebracht. Allein in Bezug auf die historischen Abläufe ist das nicht falsch. Landet der Leser doch in Ryans aktuell ins Deutsche übersetztem Buch mitten in der Krise, während Die Sache mit dem Dezember eine Abrechnung mit der ein ganzes Land erfassenden gedankenlosen Gier darstellt, die letztlich erst in das Desaster führte. Schade nur, dass der poetische Originaltitel – The Spinning Heart – im Deutschen zu dem wenig inspirierten Die Gesichter der Wahrheit wurde. Denn in jenem sich im Tor zum Vorgarten von Bobby Mahons Haus drehenden roten Metallherz – „Der Lack blättert inzwischen ab; das Rot ist fast verschwunden […] Aber es dreht sich noch im Wind. Ich kann es quietsch, quietsch, quietschen hören, während ich weggehe.“ – darf man wohl den zum Bild gewordenen Überlebensmut sehen, mit dem Ryans Held als Erster den Kampf gegen Depression, Verzweiflung und Verzagtheit aufnimmt.
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