Reihenweise Krieg
Ein Katalog vermisst die Beziehung von Welt- und Feldliteratur im Ersten Weltkrieg
Von Niels Penke
„Es scheint mir, daß ich in den Kriegen mehr gelesen habe als zu anderen Zeiten; und das geht manchem so.“ Dass sich Ernst Jüngers Erinnerung vom Krieg als guter Lesezeit durchaus mit den Interessen und Bedürfnissen anderer Kriegsteilnehmer deckt, bildet sich auch in der Publikationstätigkeit der Verlage ab. Insbesondere der Stellungskrieg zeichnete sich durch lange Phasen der Untätigkeit und des Wartens aus, deren Folge Langeweile war. Eine Lage, die für Befehlshaber wie die Soldaten zusätzlich belastend und stets schwieriger zu kompensieren war. Film und Theater konnten nur lokal begrenzt vorgeführt werden und schlossen daher stets mehr Zuschauer aus als ein. Zeitschriften und Bücher stellten demgegenüber die einfachste Möglichkeit dar, diese als leer empfundene Zeit nicht nur herumzukriegen, sondern zugleich auch produktiv zu nutzen. Neben individuellen Sendungen von Freunden und Familie, besorgten Feldbüchereien die Versorgung mit Literatur.
In einem mehrjährigen Forschungsprojekt an der Universität Magdeburg ist den deutschsprachigen Lektüreangeboten des Ersten Weltkrieges nachgegangen worden. Unter der Leitung von Thorsten Unger haben sich Studierende der Germanistik drei Semester mit der Buchreihen-Sammlung der Ute-und-Wolfram-Neumann-Stiftung beschäftigt. Diese umfasst etwa 1200 Reihen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, auf deren Grundlage eine Ausstellung sowie der vorliegende Katalog erarbeitet wurden.
Die umfangreiche Einleitung des Bandes beschreibt den weiteren Kontext der Sammlung, das Spektrum der Unterhaltungsmedien, aber besonders jene Literatur, die in engem Zusammenhang mit dem Krieg produziert und distribuiert worden ist. Neben der Geschichte belletristischer Buchreihen im allgemeinen bietet der Band anschlussfähige Überlegungen zum Begriff der Feldliteratur, dem drei Dimensionen zugeschrieben werden. Zielgruppenspezifisch lässt sich Feldliteratur als Literatur begreifen, die für das Feld im weiteren Sinne bestimmt und an Leser an der Front, in der Etappe wie im Lazarett aber auch Kriegsgefangene adressiert ist. Auf den Inhalt bezogen, kann unter Feldliteratur alles verstanden werden, was das ‚Feld‘ betrifft, also alle Texte, die Kriegssujets aufgreifen und Themen des Krieges behandeln. Im engeren, produktionsbezogen Sinn ist Feldliteratur all jene Literatur, die aus dem Feld hervorgeht, die an der Front oder im Heimaturlaub verfasst wird. Die Buchreihen bilden alle drei Dimensionen gleichermaßen ab. Das zentrale Anliegen ihrer Erforschung ist es jedoch, das „Spannungsverhältnis“ einzufangen, das zwischen „der internationalen Ausrichtung der klassischen Moderne auf der einen Seite und dem Ungeist chauvinistischer Ausgrenzung im nationalen Diskurs populärer Medien auf der anderen“ besteht und wie es sich unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs verschoben hat. Der dem zugrundeliegende Weltliteraturbegriff ist daher emphatisch und supra-national, auf eine verbindende statt konkurrierende und trennende Funktion bezogen.
Die vier Kapitel stellen ausgewählte Reihen und Titel vor, deren Einzelanalysen jedoch durch allgemeine Einleitungen historisch und theoretisch gerahmt werden. Das erste Kapitel nimmt zeitübergreifende Buchreihen in den Blick, die bereits vor 1914 und über 1918 hinaus erschienen sind. Prominente Beispiels sind die 1912 begründete Insel-Bücherei oder Reclams Universal-Bibliothek, die sich in ihren Programmen in unterschiedlicher Weise auf den Kriegsbeginn beziehen. Im Falle Reclams wird deutlich, dass kommerzielle Interessen den weltliterarischen Anspruch zugunsten bellizistischer Titel zurückstellten. Das Kapitel zeigt aber auch interessante unbekanntere Reihen wie die Orplid-Bücher, die Bunten Einhorn-Bücher oder Flugblätter des Bücherhamsters, in denen sich ein breites Spektrum der Thematisierung von und der Positionierung zum Krieg finden. Das zweite Kapitel fokussiert die kulturellen und nationalen Selbst- wie Fremdbilder, die in den Veröffentlichungen vertreten werden. Dabei werden imagologisch informierte Perspektiven auch auf schweizerische und österreichische, aber vorwiegend deutsche Reihen geworfen. Kapitel drei widmet sich konkreten Kriegsthemen, wie sie in Kriegstagebüchern oder patriotischer Stimmungslyrik verhandelt werden. Reihen wie Deutsche Führer in großer Zeit oder Julius Babs Anthologie 1914. Der deutsche Krieg im deutschen Gedicht antizipieren schon die bis 1945 fortwirkende deutsche Kriegspropaganda. Das letzte Kapitel zeigt Feldpostreihen, die für die Zirkulation unter den Soldaten produziert wurden. Diese geben gute Einblicke, welchen Autoren und Texten zugetraut wurde, erzieherisch auf die Kriegsbegeisterung hinzuwirken oder die Moral der Soldaten heben zu können. Der Bogen reicht dabei von der nationalistischen Agitation Eugen Diederichs und seiner Feldbücherei der Tat bis zu kritischen Stimmen (August Stramm, Georg Trakl und andere) und Hermann Hesses tröstender Märchenprosa.
Die durchweg gut lesbaren Beiträge des Bandes wurden vom Herausgeber und rund einem Dutzend StudentInnen verfasst, die zugleich auch für Lektorat und Satz verantwortlich waren. Bei der Lektüre kann dabei leicht in Vergessenheit geraten, dass es sich um einen Ausstellungskatalog handelt, da dieser erstaunlich textreich und vergleichsweise bilderarm daherkommt. Doch gerade dies macht ihn als Einführung in den bislang nur in Ausschnitten erschlossenen Bereich der Feldliteratur wertvoll. Er zeigt umfangreiche und in Teilen wenig bekannte Zusammenhänge von anlass- und zielgruppenspezifischer Buchproduktion auf, nimmt aber auch ihre weiteren Kontexte der politischen und ästhetischen Erziehung sowie der Popularisierung von Medien, Formen und Inhalten in den Blick. Ein Buch, das sich nicht zuletzt deswegen besonders als Einführung und Materialsammlung für weiterführende Forschung nutzen lässt, weil es exorbitant preiswert ist.
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