Stirb und werde

Über Norbert Hummelts Gedichtband „Fegefeuer“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gedichte in Norbert Hummelts neuem Band Fegefeuer vereinen Einsamkeit und Traurigkeit, dunkle Träume und hoffnungsvolle Gedanken. Melancholisch blickt das gealterte Ich zurück auf eine vergangene, schöne Zeit, in der der Vater noch lebte. Es erkennt sentenzhaft, dass es nichts vollbracht hat im Leben und es nicht einmal würdig sei, den Gesang der Vögel zu genießen. Diese Verzweiflung gipfelt im Gedicht in hora mortis in Todesangst, Schmerzen, Leid und Stoßgebeten. Der Tod naht hier ohne friedvoll-verklärte Rückblicke, sondern mit heulenden Sturmböen, zersplitternden Fensterscheiben und furioser Angst. Die akzentuierte Bedrängnis überträgt sich sogleich auf den Leser. Hinzu kommt, dass der treibende Rhythmus und Zeilensprünge kaum Raum für Empathie lassen. Der Blick des Lesers wird mit großer Geschwindigkeit von einem Bild zum nächsten geführt.

Die Dramaturgie der Gedichte ist stets von einem umherschweifenden Blick geprägt, der aber selten so energisch ist wie in hora mortis. Er schweift von außen nach innen und zurück in die Realität, um schließlich in einer Erklärung zu münden, die mal von leidenschaftlicher Auflehnung, mal von einer resignierenden Traurigkeit geprägt ist. Spricht das Ich beispielsweise während einer Fahrt an der slowenischen Adriaküste, verhallen seine Fragen ungehört, weil die Begleitung im Auto eingeschlafen ist. Es bleibt kein Zuhörer außer dem eigenen Verstand. Die nüchterne Realität: Die einzige Aufgabe für den Fahrer ist es hernach, seine Begleitung nach Hause zu bringen. Im Gedicht das lied versucht das Ich Außen und Innen zu ordnen, Realität von Traum zu unterscheiden: „das hörte ich in/ meinem kopf noch immer u. glaubte fest, daß es von/ außen kam.“ Im Gedicht ahrdorf nähert sich abermals der Tod („sein körper weist nun jede speise ab“), wiederum bleibt dem Leidenden nur der Rückzug in das Innere („u. ich kann wandern ohne jeden stab/ u. in mir regt sich immer noch das blut“), mit dem sich der Sterbende auf die erwartete Ewigkeit vorbereitet.

Die konsequente Kleinschreibung in diesen zitierten Zeilen sowie die spärliche Anwendung der deutschen Zeichensetzungsregeln sind für moderne Lyrik gewöhnliche Stilmittel. In Hummelts Gedichten führen diese in Kombination mit den ebenfalls konsequenten Abkürzen – beispielsweise wird „und“ zu „u.“ – zu einem ungewöhnlichen Lesefluss. Der Konjunktion wird auf diesem Wege eine hohe Bedeutung zugemessen. Zugleich entsteht durch die „u.“-Einsätze der Eindruck einer stakkatohaften Aufzählung fast wie mit Spiegelpunkten, wodurch wiederum der Rhythmus der Gedichte betont wird. Die distributive Verbindung der Elemente vor und nach jedem „u.“ ist mächtig. Im Gedicht mermuth entsteht mit sechs „u.“ eine lange Reihe von Gedanken, ein Gedankenstrom, der Orte und Angstgefühle unmittelbar mit Hoffnung verknüpft; letztlich gelangt das Ich zu dem Schluss „hier werde ich für mein leben nicht alt/ hier wachse ich noch mit den farnen im wald.“

Hummelt führt die Leser an den Rhein, zu schroffen Schieferfelsen und hinab an torfig-feuchte Orte. Die Erinnerungswelten und Träume können über alle Sinne aufgenommen werden, sie befinden sich im hautnahen Kontakt. Beinahe schmeckt man die in den Zeilen gereichten dunklen Schokoladen und „edle Tropfen in Nuß“; beinahe hört man den alten Kansas-Song Dust in the Wind, der in das blaue buch im Radio läuft. „ich glaube jeder von uns war schon mal in einem/ ganz bestimmten wiesental“, sinniert das Ich sich direkt an den Leser wendend. Das Identifikationspotenzial der Gedichte von Norbert Hummelt ist hoch. In der „FAZ“ vom 21. November 2014 schrieb Hummelt über sein Gedicht Feldpostkarte, dass er, während er mit seinem Gedicht lebte, bemerkte, „dass ich mich zusehends an die Stelle dieses lyrischen Ichs begab und mir die darin aufscheinenden Ängste zu eigen machte“. Diese Aussage kann auf den Leser der Gedichte seines neuen Bandes Fegefeuer übertragen werden. Mit wenigen Worten durchlebt der Leser mit den Zeilen den ewigen Kreislauf der Liebe – von den durchwachten Nächten des Verlassenen über das Begehren „nicht mehr zu begehren“, um dann doch „das andere licht“ zu sehen. Stirb und werde! Die Gedichte sind klar, gegenwärtig und tiefsinnig. Fegefeuer ist ein sehr intensiver Gedichtband zwischen sehnsuchtsvoller Erinnerung, Ängsten, Hoffnung und Vergänglichkeit.

Titelbild

Norbert Hummelt: Fegefeuer. Gedichte.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
96 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875217

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