Wolfgang Hildesheimer im Gerichtssaal

Über seine Arbeit als Dolmetscher und Redakteur bei den Nürnberger Prozessen 1947 bis 1949

Von Stephan BraeseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Braese

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Hildesheimer, der 1966 für „Tynset“ den Georg Büchner-Preis erhielt, 1977 mit „Mozart“ einen in alle Weltsprachen übersetzten Bestseller veröffentlichte und 1975 in seinem in England gehaltenen, rasch ins Deutsche übersetzten Vortrag „The End of Fiction“ die Fragwürdigkeit literarischen Schreibens in der Gegenwart zur Diskussion stellte, war 1933 mit seinen Eltern aus Deutschland als knapp 17jähriger nach Palästina ausgewandert. Eine in Jerusalem absolvierte Tischlerlehre ergänzte er 1937-1939 mit einem Studium an der Londoner Central School for Arts and Crafts. Danach kehrte er nach Palästina zurück, wo er die Kriegsjahre verbrachte. 1946 ging er erneut nach London und ließ sich dort als Simultandolmetscher für die Nachfolgeprozesse am Nürnberger Gerichtshof der Alliierten anwerben, wo er im Januar 1947 eintraf und seine Arbeit aufnahm. Als Dolmetscher sowie als Redakteur eines Teils der Protokolle wirkte er dort bis Ende 1949.

Neben den Jahren in Palästina und London war die Zeit in Nürnberg für das Werk Wolfgang Hildesheimers besonders prägend. Der folgende Auszug aus der Biographie „Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer“ markiert einige der besonderen Bedingungen, unter denen Hildesheimers Arbeit in Nürnberg stand. Sie legte den Grund sowohl für konstitutive thematische als auch poetologische Komponenten im Werk dieses Autors.

S. B.

Im Gerichtssaal: Zwischen Sprachen und Technik

Zwar hatte Hildesheimer bereits in Palästina, wahrscheinlich seit Ende 1942, von bis dahin für undenkbar gehaltenen Verbrechen der Deutschen gegen die europäischen Juden erfahren, sowohl durch Medien des Yishuv als auch der britischen Mandatsbehörde. Und nach Kriegsende hatten etwa Karl Anders, Robert Jungk, Erika Mann und Peter de Mendelssohn u.a. über den BBC, den „Observer“ und den „Evening Standard“ das britische Publikum ausführlich über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die dort verhandelten Verbrechen unterrichtet. Auch wenn Hildesheimer insofern keineswegs unvorbereitet an seine Arbeit in Nürnberg ging, reagierte er in der unmittelbaren Konfrontation mit dem zusammengetragenen Beweismaterial schockiert. Am 5. Februar 1947, noch vor seinem ersten Einsatz im Gerichtssaal, schrieb er an die Eltern: „Das Material was man in die Hand bekommt und auch die Zeugenaussagen die man bei den Aerzte-prozessen zu hoeren bekommt uebersteigt manchmal alles vorstellbare. Waehrend ich frueher Skrupel hatte und nicht sicher war ob ich an der ganzen Nuernberg-maschine teilnehmen wollte, bin ich jetzt ganz sicher, dass alle Urteile die bis jetzt gefaellt sind und auch noch gefaellt werden, berechtigt sind.“

Seine Arbeit im Gerichtssaal schilderte er seiner Schwester wie folgt: „Mein Rang ist: Court-interpreter (und zwar von Deutsch ins Englische) das bedeutet, daß ich bei Gerichtsverhandlungen alles was ich durch den Kopfhörer Deutsch höre sofort simultan, automatisch ins Englische übersetze und zwar in das Mikrophon.“ Vermutlich am 8. Februar 1947 erfolgte Hildesheimers erster Einsatz als Dolmetscher im Gerichtssaal – bei „der Eroeffnung des Industriellenprozesses bei dem ich mein eigentliches Debut machte. (Das einzige, was ich den ganzen Tag zu sagen hatte, war zwar nur: I am not guilty ((sechs mal)), aber es war doch eine feierliche Gelegenheit. Der hoechste General der Amerikaner in Deutschland, General Clay war zugegen.“

Die lakonische Darstellung verdeckt, dass Hildesheimers Arbeit gleichsam an der ‚Nutzeroberfläche‘ eines hoch komplexen medientechnologischen Verfahrens mit enormen Folgen für den Verfahrensablauf der juristischen Urteilsfindung stattfand. Während der Vorbereitung des Hauptkriegsverbrecherprozesses war relativ schnell deutlich geworden, dass „das konventionelle, Satz auf Satz folgende Übersetzungsverfahren, das bis dahin die Regel gewesen war“, so Cornelia Vismann, nicht hatte in Frage kommen können: „Die exponentiell wachsende Dolmetschertätigkeit des Gerichts hätte“ – bei Berücksichtigung der vier Sprachen des Hauptkriegsverbrecherprozesses – „bei Anwendung eines Verfahrens des nacheinander geschalteten, konsekutiven Übersetzens jede bis dahin je in einem Prozess geduldete und ausgestandene Zeitdimension gesprengt.“ Der in Nürnberg tätige Dolmetscher Léon Dostert hatte eine von der International Business Machine Corporation (IBM) entwickelte Technologie vorgeschlagen, die für die internationale Labor Conference, die 1927 in Genf stattgefunden hatte, entwickelt worden war. Die Fortentwicklung dieser Technologie für die Nürnberger Verfahren mündete in „die Verkabelung aller mit allen“, die Dolmetscher übersetzten die Aussage, die sie über den Kopfhörer erreichte, sofort, simultan, in ein Mikrophon; jeder Prozessbeteiligte konnte jederzeit per Knopfdruck an seiner Anlage entscheiden, in welcher Sprache er das in diesem Augenblick Gesprochene hören wollte. Daraus entstanden, wie Cornelia Vismann festhält, „jede Menge Kommunikationsparadoxe. Aus der mehrsprachigen Gerichtsverhandlung macht sie [die IBM-Dolmetschertechnik, SB] ein groß angelegtes Ortsgespräch, es überträgt einen Dialog mit der Menge, führt ein Telefonat unter Anwesenden. Die Anlage ist ein Distanzmedium ohne Distanz, sie amplifiziert Stimmen in Hörweite und stellt Ferngespräche mit Sichtkontakt her. Die Hörmuschel des Telefons mutiert zu hunderten von Kopfhörern, das telefonische Mundstück zu Mikrophonen. Aus Prozessbeteiligten werden Fernsprechteilnehmer. Über elektrische Kabel und Kopfhörer sind sie mit dem Prozessgeschehen verbunden.“

Die Positionierung und die technische Ausstattung der Dolmetscher im Gerichtssaal trug ihrer spezifischen Aufgabe Rechnung. Die Dolmetscherbank stand im rechten Winkel sowohl zur Bank der Angeklagten wie zu der des Richters. Dazwischen waren Tische für die Ankläger sowie für die Zeugen, ebenfalls gut einsehbar für die Dolmetscher, postiert. Im Hintergrund des Saals befand sich die Tribüne für die Presse und geladene Gäste. Die Dolmetscher waren vom Saal entweder durch Glaskabinen oder durch Glaswände abgetrennt, um störende Geräusche, etwa die tuschelnde Kommunikation jener Prozessbeteiligten, die gerade nicht in ihr Mikrophon sprachen, während des Übersetzungsvorgangs zu minimieren; außerdem saßen sie erhöht, so Vismann, „um Augenkontakt mit den sich bewegenden Mündern halten zu können.“ Unmittelbar vor den Dolmetschern, so Hildesheimers Kollege Henry A. Lea, „befanden sich zwei große Glühbirnen: eine gelbe und eine rote. Wenn der Sprecher zu schnell sprach, konnte der Dolmetscher das gelbe Licht aktivieren, was ‚langsamer‘ bedeutete; wenn das rote Licht aktiviert wurde, bedeutete es ‚stop‘. Jeder Sprecher wurde ermahnt, langsam und aus dem Stegreif zu sprechen und in möglichst kurzen Sätzen, angesichts des unterschiedlichen Satzbaus der Sprachen.“ Das Simultandolmetschen erfolgte zudem unter der Bedingung eines gleichbleibend hohen permanenten Lärmpegels: Neben den Geräuschen, die aus dem Gerichtssaal zusätzlich zu den Stimmen aus den Kopfhörern zu ihnen drangen, führte mehr als ein gleichzeitig angeschaltetes Mikrophon zu einem, wie Vismann berichtet, „akustischen Kurzschluss, der eine Art von Rauschen produziert.“

Die ‚Verspätung‘, mit der die simultane Übersetzung dem Original nachfolgt, beträgt ungefähr 8 Sekunden, im Fachjargon décalage genannt. Das Simultandolmetschen, das im Vergleich zu konventioneller Übersetzertätigkeit unter enormem Zeitdruck erfolgt, steht unter der akuten Bedingung begrenzter Übertragungskapazität. Die Wahrnehmung des Dolmetschers muss jede Information auf das reduzieren, „was nicht weggelassen werden kann, ohne dass die Information verschwände.“ Einen Schlüssel dafür bilden die sogenannten Anschlusswahrscheinlichkeiten, die sich „entlastend auf die begrenzte Übertragungs- und Aufmerksamkeitskapazität beim Simultandolmetschen“ auswirken: „Was wahrscheinlich auf ein Wort folgt, beansprucht keine Extra-Aufmerksamkeit und kann so als bloßes Rauschen an Dolmetscherohren vorüberziehen.“ Diese Ökonomisierung der Übertragungsmengen steht jedoch unter dem „Gesetz der Bedeutungsneutralität“; die „zumindest partielle Ausschaltung des Bewußtseins ermöglicht überhaupt erst das simultane Übersetzen.“ Henry A. Lea hat die Anforderung des Simultandolmetschens als „ein extrem intensives Sich-Konzentrieren“ beschrieben – „den höchsten Grad, den ich je erfahren habe.“ Aufgrund der abweichenden syntaktischen Ordnungen im Englischen und im Deutschen, so spezifiziert Lea, habe „sich der Dolmetscher ausschließlich auf die Syntax konzentrieren und alles andere ausschalten [müssen]. Man klammert sich so intensiv an den Wortlaut, dass man den Inhalt darüber nicht mitbekommt.“ „Die Konzentration auf den Wortlaut“, fasst Vismann zusammen, „schaltet das Bewußtsein der Dolmetscher so gründlich aus, dass die Bedeutung der übersetzten Worte letztlich nicht bis dahin durchdringt.“ Auch Siegfried Ramler bezeugte die eigentümliche Erfahrung, dass er, wenn er nach einer seiner Dolmetsch-Einheiten den Gerichtssaal verließ und ihn Interessierte auf den Korridoren daraufhin ansprachen, was gerade vor Gericht ablaufe, er oftmals unfähig gewesen sei, darauf zu antworten „because in some ways when you had that kind of a focus and that concentration you are almost in a trans-like situation. You are doing it correctly but […] when you came out it was very difficult to construct what was going on.”

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt nach der Vorbemerkung mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und des Verlags ohne die Fußnoten einen Abschnitt aus Stephan Braese: Jenseits der Pässe. Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2016.

Hinweise zur mehrfach zitierten Literatur:

Cornelia Vismann: Sprachbrüche im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, in: Stephan Braese (Hg.), Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in den Auseinandersetzungen mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen 2004, S. 47-66.

Henry A. Lea: Verfolger und Verfolgte: Wolfgang Hildesheimers Erfahrung der Nürnberger Prozesse, in: Braese (Hg.): Rechenschaften, S. 67-86

 

Titelbild

Stephan Braese: Jenseits der Pässe. Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
588 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318892

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