Ein Dokument der Schande

Martin Luthers antijudaistische Hauptschrift wissenschaftlich kommentiert

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Herausgabe Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ durch Matthias Morgenstern eröffnet der Verlag Berlin University Press eine Reihe wissenschaftlich kommentierter antijudaistischer Schriften. Im Falle dieses Vorhabens drängt sich die Frage nach dem Ziel und der Sinnhaftigkeit eines derartigen Unternehmens unweigerlich auf. Der Verlag gibt hierüber im Rahmen des Buches leider keine Auskunft. Im Geleitwort mahnt Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm an, es genüge nicht, bei einer historisierenden Debatte zu verharren. Vielmehr gehe es um „die selbstkritische Verständigung über das, was wir der Reformation verdanken“. Dass mit Morgenstern ein Judaist die Ausgabe eines seit 1936 in Deutschland nicht mehr vollständig erschienenen Schlüsselwerkes besorge, sei ein glücklicher Umstand. „… es ist die jüdische Sicht und damit der Blickwinkel der Opfer“, erklärt Bedford-Strohm.

In der Tat ist der Pfarrer Matthias Morgenstern als außerplanmäßiger Professor an der Universität Tübingen tätig und durch zahlreiche Publikationen ausgewiesen. Er hat dem von ihm sprachlich den heutigen Gewohnheiten angepassten Text einen umfassenden Kommentar und Anhang beigeordnet. Seinem abschließenden Essay zum lutherischen Werk gibt er die Überschrift „Erwägungen zu einem Dokument der Schande“. Ausgehend von den verheerenden Wirkungen, die Luthers Schrift in nationalsozialistischer Zeit anrichtete, erfährt der Leser das Ziel seiner Arbeit. Angesichts des Lutherjubiläums müsse „im Hinblick auf den Sachverhalt Luther und die Juden wirklich alles auf den Tisch“. Geht es Morgenstern also um Dekonstruktion einer historisch wirkmächtigen Persönlichkeit? Es gelte zunächst einmal, den Autor in seinen zeitlichen Kontext zu verorten und ihn so zu historisieren. Es dürfe nicht vergessen werden, in welcher kritischen Lebenslage die berüchtigte Schrift entstanden sei. Luther befand sich in der Verarbeitung des frühen Todes seiner Tochter Magdalena, die im Alter von 13 Jahren starb. Aber derartige Ausführungen könnten ja auf eine Entlastung des Reformators hinauslaufen. Morgenstern konstatiert eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit Luthers antijudaistischen Schriften im Ausland, „von der man nicht wünschen will, sie in absehbarer Zeit hierzulande Platz greifen zu sehen.“ Ziel sei es, sich dem Text aus der Opferperspektive anzunähern, ihn in ein annehmbares Neuhochdeutsch zu übertragen und mit Hilfe jüdischer Quellen zu kommentieren.

Luthers im Original ungegliederte Schrift wird vom Herausgeber in acht Abschnitte unterteilt. So wird der Argumentationsstrang verdeutlicht und gleichsam die Traditionslinie sichtbar, die Luther aufnahm und bestärkte. Neben Angriffen auf die von den Juden behauptete edle Abstammung ihres Volkes, auf den Ritus der Beschneidung und den „Besitz“ der Gesetzestafel vom Sinai führt der Reformator zum jüdischen Umgang mit dem Messias. Luther versucht zunächst das den Juden unterstellte Argument zu entkräften, es handle sich um ein von Gott auserwähltes Volk. Zwar fänden sich entsprechende Passagen im Alten Testament, doch hätten die Juden dieses Recht vor Gott längst verwirkt. Im Falle der Gesetzestafel erklärt Luther in scharfem Ton: zwar sei sie dem Volke Israel eröffnet worden, doch missachteten die Juden jene heiligen Gesetze. Es komme nicht darauf an, dieselben zu besitzen, sondern sie umzusetzen und nachzuleben.

Gott strafe die Juden seit 1500 Jahren. Deutlichstes Anzeichen hierfür sei die Verteilung des Volkes über die Erde. Die Lektüre erweist sich also als überaus unappetitlich und fordert dem Leser, trotz der textlichen Modernisierung, schon einige Geduld ab. Könnte im Falle des ersten Kapitels noch vermutet werden, Luther meine gar nicht direkt die Juden, sondern nehme sie nur als Beispiel, um Zeitgenossen vor hoffärtigem Verhalten zu warnen, so wird spätestens mit dem zweiten Kapitel unmissverständlich klar, dass der Reformator einen Generalangriff gegen die unliebsame Minderheit führt. Hierbei ist auffällig, und Morgenstern weist im Kommentar zu Recht darauf hin, dass Luther Juden permanent mit dem Teufel in Beziehung setzt, sie der Teufelskindschaft bezichtigt. Morgenstern vermutet diesbezüglich einen direkten Zusammenhang mit der gegen Luther gerichteten scharfen Verunglimpfung seiner eigenen Mutter. Interessant sind auch kleinere Einschübe, in denen Luther verdeutlicht, dass er Juden, Türken, Papisten und „Rotten“ gleichermaßen für Feinde der wahren Lehre hält. „Und wenn ich meine Papisten nicht erfahren hätte, so hätte ich es nicht geglaubt, dass auf Erden so böse Leute sein sollten … aber nun wundere ich mich weder über die Türken noch über die Blindheit, Härte und Bosheit der Juden, weil ich solches bei den allerheiligsten Vätern der Kirche, beim Papst, bei Kardinälen und Bischöfen (ebenfalls) sehen muss “.

Luthers Schrift ist in hohem Maße vom eigenen theologischen Selbstverständnis getragen. Erst im letzten Drittel werden konkrete Maßnahmen gegen die Juden gefordert. Diese allerdings in einer Form, die die Klassifizierung als „Dokument der Schande“ durch Morgenstern in der Tat rechtfertigt. Luther fordert hier Synagogen niederzubrennen, die Zeugnisse jüdischer Religiosität vom Erdboden zu tilgen, „damit kein Mensch mehr davon in Ewigkeit einen Stein oder Schlacke sehen kann“. Gleiches rät er die jüdischen Häuser betreffend. Er fordert, die Juden zusammenzutreiben und gemeinschaftlich unterzubringen, ihnen jegliche Freizügigkeit zu verbieten, Rabbinern Lehrverbot zu erteilen, den Geldhandel zu verbieten und stattdessen „Dreschflegel, Axt, Hacke, Spaten … in die Hand (zu) gebe(n) und lasse sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen.“ Sofern jedoch „Unheil“ von ihnen drohe, solle man mit ihnen abrechnen, wie in Spanien, Frankreich und anderen Ländern. Angesichts derartiger, von unverhohlenem Hass getragenen Äußerungen nimmt es wenig Wunder, dass die Forschung zum Antisemitismus bislang den Schlusspassagen höheres Augenmerk widmete als den wesentlich umfassenderen übrigen Textabschnitten.

Morgenstern lenkt das Augenmerk nun jedoch stärker auf die theologische Auseinandersetzung Luthers mit den Juden im Rahmen der Bibelexegese. Zu Unrecht hätte die bisherige Antisemitismusforschung die umfassende Auseinandersetzung mit der jüdischen Auslegung am Anfang des Buches unterschätzt und sich in zu hohem Maße auf die erst am Ende des Buches formulierten Aufrufe zur gewaltsamen Unterdrückung der Juden fokussiert. Die Lügen der Juden aber sind für Luther in erster Linie Lügen im Zuge der Bibelauslegung. Seine Wut habe sich gerade aus der seiner Ansicht nach falschen jüdischen Auslegung der Bibel gespeist. „Offenbar sind es gerade die Streitigkeiten um das richtige Bibelverständnis, die beim Autor Aggressionspotential freisetzen“, konstatiert Morgenstern. Die somit von der Forschung nur gering beachteten Passagen seien der eigentliche Kern der lutherischen Schrift. Morgenstern verleiht seiner Interpretation besonderes Gewicht durch die Einteilung in Kapitel und die Formulierung „Das Hauptstück: Der Messias“. Seine Neubewertung wirkt überaus anregend und darf Morgenstern als bedeutendes Verdienst angerechnet werden.

Bemerkenswert ist die ruhige und sachliche Auseinandersetzung mit einem von Hass getragenen Text. Morgenstern verweist auf die beachtlichen Detailkenntnisse, über die Luther bezüglich des Judentums verfügte. Der Reformator habe zudem eine ausgesprochene Vorliebe für das Hebräische besessen. Gerade dies erschwere die Wertung der Äußerungen Luthers.

Morgensterns Anmerkungen wirken bereichernd, wo sie die lutherischen Aussagen kommentierend erklären, indem sie die Bezüge zur jüdischen Überlieferung offenbaren. Auch die Hinweise auf sprachliche Abweichungen vom Original sind vorbildlich und sinnvoll. Interessant wäre ein Vergleich zur späteren antisemitischen Literatur, deren Hauptargumentationslinien sich ja hier bereits andeuten. Andererseits hätte ein derartiger Kommentar gewiss den Rahmen der Darstellung gesprengt. Kritisierbar ist jedoch, dass relevante Publikationen von Morgenstern nicht rezipiert wurden, so der 2015 erschienene Sammelband von Oelke, Kraus, Schneider-Ludorff, Schubert, Töllner zur Rezeptionsgeschichte der lutherischen Judenschriften.

Morgenstern legt ein wichtiges historisches Dokument vollständig und neu kommentiert vor. Es wird helfen, die Geschichte des antijudaistischen und antisemitischen Denkens in Deutschland besser zu verstehen. Dass zur Herausgabe des Textes Mut gehört, äußert schon Bedford-Strohm in seinem Vorwort. Der Rezensent schließt sich dieser Aussage an und hofft, dass die Reihenherausgeber an die Qualität des ersten Bandes mit weiteren Quellenpublikationen anknüpfen können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Martin Luther: Von den Juden und Ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern.
Mit einem Geleitwort des Landesbischofs Dr. Heinrich Bedford-Strohm, EKD Ratsvorsitzender.
Berlin University Press, Berlin 2016.
328 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783737413206

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