Medienfantasien

Björn Hayer wandert durch die Medienlandschaften der Gegenwartsliteratur

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Medien die Wirklichkeitswahrnehmung der Literatur ändern, ist spätestens seit den Auseinandersetzungen des bürgerlichen Realismus mit der Fotografie und der des Naturalismus mit Grammophonie und Film Allgemeinplatz der Literaturgeschichte. Doch was ist ein Medium, wie beeinflusst es das Schreiben, löst es gar das Schreiben auf? Diese Fragen sind seit Friedrich Kittlers Studien zur Archäologie und zur Ontologie der Medien nicht verstummt. Kittlers Erbe für die Literaturwissenschaft besteht unter anderem darin, das informationstheoretische Apriori aller Literaturproduktion stets zu bedenken.

Was aber passiert mit der Literaturwissenschaft, wenn diese versucht, einen Zusammenhang zwischen dem Megatrend ‚Digitalisierung‘ und der Literaturproduktion herzustellen? Genau diese Frage stellt sich Björn Hayers Dissertation, die unter dem Titel Mediale Existenzen – Existenzielle Medien? Die digitalen Medien in der Gegenwartsliteratur 2016 erschienen ist.

Chiastische Titel sind ja immer etwas schwierig, weil sie, wenn der Chiasmus funktioniert, einen Zusammenhang präsupponieren, der ja zunächst einmal verhandelt werden muss.

Im Falle von Hayers Untersuchung fällt dies etwas schwer. Denn dass Existenzen durch Medien geprägt sind, ist trivial und immer schon Thema der Selbstthematisierung in der Literatur. Dass Medien existentiell werden, zieht die Frage nach sich: Für wen? Während der Titel allerlei Anlass zur Reflexion bietet, ist das beim Untertitel nicht mehr der Fall: Dass digitale Medien in der Gegenwartsliteratur vorkommen, ist selbstverständlich. Sonst wäre ihr Bezug auf aktuelle Wirklichkeiten schwierig.

Gegenwartsliteratur wird von Hayer als kritische Reflexionsinstanz medialer Entwicklungen gedeutet. Literatur, so allgemein wie richtig, „ist seit jeher ein Spiegel ihrer Zeit und zugleich eine Kunstform, die immer schon die medientechnologischen Wendepunkte der Menschheit zu kontextualisieren und zu hinterfragen wusste“. Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und ihrer interpretierenden Fraktionen bestehe darin, so Hayer, die „Legitimationskrise“ zu überwinden und „als kritische Begleiter der Digitalisierung“ zu fungieren. Das ist schon richtig, klingt aber doch verdächtig nach ‚gesellschaftlich relevanter Forschung‘, die sich an den ‚großen gesellschaftlichen Herausforderungen‘ orientiert, zu denen zweifelsohne die Digitalisierung gehört. Aber man muss erst einmal die richtigen Fragen stellen, bevor man Antworten auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen geben kann. Das gilt insbesondere für das Verständnis von Digitalisierung. Digitalisierung ist ja nicht nur der Einsatz digitaler Medien, sondern sie definiert das Soziale und das Individuelle komplett um: Wie das geht, zeigt auf großartige Art und Weise Dave Eggers The Circle aus dem Jahre 2014.

Die ohne Frage für die literaturwissenschaftliche Rezeption seiner Studie relevante Realismusdiskussion spart sich Hayer. Für ihn ist entscheidend, wie sehr die ‚digitalen Medien‘ die Identitätskonstruktion der Figuren und ihre Inszenierung prägen. Anhand von Kehlmanns Ruhm aus dem Jahre 2008, Maas Play Repeat, Jelineks Winterreise sowie Borries’ 1 WTC und Meinecks Lookalikes wird diese Grundthese überprüft.

Durchgängig ist, so Hayer, der medial vermittelte indirekte Zugriff auf die erzählten Wirklichkeiten. Bei vielen von Hayer untersuchten Texten ist die mediale (und poetologische) Funktion von Telefon, Internet und anderen Medien, die Figuren und die Geschichten miteinander in Beziehung zu setzen. Medien ziehen also eine metafiktionale Erzählebene ein. Diese Metafiktionalität hat aber, wie in vielen Texten des Realismus, insbesondere bei Raabe, eine eminent literaturgeschichtliche Tradition, auf die Hayer nicht eingeht. Hayer unterscheidet streng zwischen Medialität der Literatur und Literatur als Medium. Medialität der Literatur bedeutet, auf die Faktizität des gedruckten Mediums zu reflektieren; Literatur als Medium zu untersuchen, die Literatur mit der Leitdifferenz analog/digital zu untersuchen. Ohne es zu sagen, ist Hayers Medienbegriff eher einer, der zwischen der harten, materialistisch orientierten Medientheorie und der eher kulturell orientierten Medienanthropologie vermittelt.

Die ersten zwei Kapitel widmen sich theoretisch-methodischen Fragestellungen, Kapitel drei bis sieben der Interpretation der oben genannten Werke. Für Hayer beschreibt Kehlmanns Roman die „Existenzmodi innerhalb digitaler Medien“, bei Marcel Maas findet er eine „dystopische Medienwelt“, bei Jelinek „Medienpessimismus“ und bei Thomas Meinecke eine vom Poststrukturalismus geprägte „Ideenarchitektur“. Die Interpretationen bzw. medientheoretische Kontextualisierungen überzeugen, wenn auch die Frage bleibt, warum Hayer auf eine genealogische Reflexion seines Ansatzes verzichtet. Die kulturellen Muster, in die sich die Texte der Gegenwartsliteratur einschreiben, entstammen zu einem großen Teil aus der Tradition – wie zum Beispiel aus dem bürgerlichen Realismus. Die „synthetischen Relationen“ zwischen Literatur und Medien haben eine Tradition, die zu reflektieren dem Ansatz Hayers nicht geschadet hätte. Aber dieses Monitum schmälert nicht das grundsätzliche Ergebnis.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Björn Hayer: Mediale Existenzen? Existenzielle Medien? Die digitalen Medien in der Gegenwartsliteratur.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2016.
365 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826058905

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