Die unendliche russische Seele

Über Mathias Énards „Der Alkohol und die Wehmut“

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mathias Énards „Roman“ Der Alkohol und die Wehmut ist das richtige Buch für eine Zugfahrt oder einen einsamen Winterabend vor dem warmen Ofen. Wenn Sie etwas Alkoholisches dazu trinken wollen und zu Sentimentalität neigen, sollten Sie allerdings vorsichtig sein. Eine Tasse Tee ist in diesem Fall vermutlich vernünftiger.

So rät auch Jeanne dem Ich-Erzähler, lieber einen Tee in ihrer Moskauer Studentenwohnung zu trinken und sich gemeinsam mit ihr ins Bett zu verkriechen als alleine die lange Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Nowosibirsk anzutreten. Doch dieser scheint unvernünftig genug, der Versuchung, bei der jungen Frau zu bleiben, zu widerstehen. Genauso unvernünftig wie Wladimir, an den sich die Rede des Ich-Erzählers während seiner Zugreise durch das schier endlose winterliche Russland richtet. Jeanne, Wladimir und den Erzähler verbindet eine ausschweifende, dem Alkohol und anderen Drogen hingegebene Vergangenheit in Moskau, ergänzt durch Ausflüge in andere Städte wie Nischni Nowgorod, Jekaterinburg oder St. Petersburg. Allein, unbeschwert war dieses Leben nicht nur durch die eingenommenen toxischen Substanzen keineswegs. Ohne die näheren Hintergründe darüber zu erfahren, stellt sich bald heraus, dass Wladimir tot ist. Erscheint die Rede des Erzählers damit als Nekrolog an den verstorbenen Freund, so gestaltet sich seine Reise nach Nowosibirsk gewissermaßen als Hadesfahrt. „Man reist immer mit Toten im Gepäck“, heißt es. Und die Erinnerung an die Moskauer U-Bahnen und ringförmigen Straßensysteme lösen Assoziationen an Dantes Höllenkreise aus.

Bis zum Schluss wird der mit 106 Seiten kurze Text, der die Prosafassung eines am Erzählort selbst – der Transsibirischen Eisenbahn – entstandenen und 2010 gesendeten Hörspiels ist, vom Grundton der Melancholie beherrscht. So wird das Buch seinem Titel wie auch dem Motto gerecht. Letzteres stammt von Anton Tschechow und ist der Versuch einer Definition: „Die berühmte russische Seele existiert nicht. Das einzig Greifbare daran ist der Alkohol, die Wehmut und die Leidenschaft für Pferderennen“. So legt es der russische Autor zumindest einer Figur in der Erzählung Die Postkutsche von Twer in den Mund.

Abenteuerlich lange Reisen durch Schneelandschaften oder die matschig aufgeweichte Taiga – oft mit ungewissem Ausgang – zählen bekanntlich zum Standardrepertoire der russischen Literatur. Immer wieder beklagen ihre Helden die unerträgliche Langeweile in der Provinz. Hier ist sie in Form der Eisenbahn auf einen Erzählraum geschrumpft. Dass Énard den Ich-Erzähler seiner Road-Story von Amerika und Jack Kerouac oder dem alkoholkranken Raymond Carver träumen lässt, erscheint da als ironische Brechung, wie überhaupt subtile Ironie zu einem Markenzeichen des mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Autors zählt. Stellt sein 2015 erschienener Roman Boussole (dt. Kompass, 2016) hingegen die meisterhaft beherrschte Kunst des oft ausufernden Fabulierens und der Weitschweifigkeit unter Beweis, so ist Der Alkohol und die Wehmut zwar nicht weniger abschweifend, aber doch die konzentriertere Form, eine Art fein komponiertes Kammerstück. Zumal der gesamte Text auf den Versuch hinausläuft, die sentimentale Stimmung des vor sich hin trinkenden Erzählers auf den Leser zu übertragen und als Grundgefühl seiner Begegnung mit Russland auszudrücken. Darüber hinaus schafft es Énard neben den Rückblenden auf die gemeinsame Zeit mit Wladimir und Jeanne, nach der sich der Erzähler sehnt, in kurzen indirekten Zitaten und Erwähnungen Fragmente der russischen Literatur und Geschichte, etwa die Gulags oder die Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg 1918, gegenwärtig werden zu lassen.

Am Schluss des Textes kommt Jeanne zu Wort. Sie beschwört ihren Freund, der sich, in Nowosibirsk angekommen, das Leben nehmen wollte und im Krankenhaus liegt, weiterzuleben. „Du bist noch nicht tot, noch bist du nicht allein“, zitiert sie, wie schon einmal, ein Gedicht von Ossip Mandelstam.

Titelbild

Mathias Énard: Der Alkohol und die Wehmut. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
111 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573490

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