Beobachten und beobachtet werden
Marie Malcovati legt einen Debütroman vor, der durch Multiperspektivität und Komik überzeugt
Von Isabel Steinmetz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWir blicken auf ein Wandgemälde mit einem Alpenpanorama. Die Farbe blättert bereits ab, davor hängt eine Bahnhofsuhr. Der ansprechende Bucheinband von Marie Malcovatis Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte führt den Leser unmittelbar zum Schauplatz des Romans. Auf einer Bank in der Bahnhofshalle treffen zwei Personen aufeinander, wobei sie von einem anderen beobachtet werden.
Der gerade von seiner Frau verlassene Polizist Marotti blickt in einem abgedunkelten Raum auf die Überwachungsbildschirme des Basler Bahnhofs. Er entdeckt auf einer Bahnhofsbank eine kühl wirkende Frau, die zu weinen beginnt. Sie heißt Lucy und ist eine erfolgreiche Simultandolmetscherin. Ein jüngerer, als römischer Legionär verkleideter Mann setzt sich neben sie. Sein miserabler Zustand – alkoholisiert, übernächtigt und geplagt von Übelkeit – lässt den Mann namens Simon der fremden Frau in einem passenden Moment das Wasser aus ihrer Tasche stehlen, um seinen unbändigen Durst zu stillen. Die seltsame Begegnung entwickelt sich über den Zeitraum von einem ganzen Tag und einer Nacht zu einem unerwarteten Wechselspiel.
Das voyeuristische Setting erinnert an Hitchcocks Fenster zum Hof, denn wie Jeff ist auch Marotti am Bein verletzt und kann sich nicht von der Stelle bewegen. Die Überwachungskameras, die an diesem Tag ausnahmsweise nur schwarz-weiße Bilder zeigen, sind sein einziger Kontakt zur Außenwelt. Eis und Popcorn werden ihm von einer Kollegin mit den Worten „Fürs Kino“ überreicht und je mehr Schmerztabletten der Polizist einnimmt, desto mehr steigert er sich in das Geschehen hinein, hinterfragt das seltsame Verhalten der zwei Personen auf der Bank und hofft darauf, dass endlich etwas passiert:
„Nun saßen die beiden genauso da wie vorher. Anscheinend hatten sie in diesem Leben keine Termine mehr. Sie taten überhaupt nichts, sie telefonierten nicht, unterhielten sich nicht, informierten sich nicht über das Weltgeschehen. Sie starrten einfach nur vor sich hin. Marotti wurde langsam wütend.“
Emotional in die Begegnung der beiden Personen eingebunden, vergisst der Beobachter seine eigentliche Aufgabe, Aktivisten am Bahnhof aufzuspüren. Bald hat der Neurotiker den fälschlichen Eindruck, durch seine Gefühle die Geschichte beeinflussen zu können, und versucht schließlich mit Hilfe seiner schauspielerisch begabten Nichte Giulia, die Begegnung in eine romantische Richtung zu lenken. Dabei hat er Giulias Worte über seine soeben verlorene Beziehung tief im Nacken sitzen: „Oder sitzt du immer nur da und schaust zu und hoffst, dass was passiert? Vielleicht ist es das, wovon sie genug hatte.“ Den Kampf gegen die Gewohnheit, alles nur „beinahe“ zu tun, gegen die Passivität und die Ohnmacht auf der Welt haben Marotti, Simon und Lucy gemeinsam. Die Verbildlichung dieses Komplexes – das Warten auf der Bahnhofsbank als das Warten auf Klarheit über die Welt, auf Entscheidungen und den Tod – setzt die Autorin in ihrem Roman gelungen in Szene.
Die Beschränkung des Settings auf den Basler Bahnhof hat Malcovati, die Drehbuch und Filmwissenschaften studierte und vor ihrem Debütroman Hörspiele und Erzählungen veröffentlichte, unternommen, „um nicht in lauter Möglichkeiten zu versinken“, wie sie in einem Interview mit Katharina Picandet 2015 erklärte. Gerade der Bahnhof als öffentlicher Raum, an dem Menschen kommen und gehen, bietet durch seine vielfältigen Möglichkeiten an sozialen Begegnungen eine ideale Spielstätte für den Roman. Wie von selbst entstehen äußerst komische Interaktionen, die die Figuren immer wieder aus ihren Gedanken und der Selbstisolation herausholen.
Gerade die Art, wie Malcovati dies in dem relativ kurzen Roman erzählt, ist bemerkenswert: Ein allwissender Erzähler nimmt im Wechsel die Sichtweisen der einzelnen Figuren an, was formal durch Kapitel strukturiert ist, die als Titel den Anfangsbuchstaben des Vornamens der jeweiligen Figur tragen. Dabei werden einzelne Ereignisse – wie beispielsweise das Trinken aus der fremden Wasserflasche – repetitiv erzählt, wodurch dem Leser bewusst wird, wie die eingenommene Perspektive die Wahrnehmung einer Handlung beeinflussen kann. Hinzu kommen kunstvoll eingefädelte Ellipsen, die an späterer Stelle gefüllt werden und skurrile Verhaltensweisen der Figuren noch komischer erscheinen lassen. Dies ist beispielsweise bei der Darstellung von Simons Diebstahl eines Lavendeltopfs, den er als Entschuldigung für sein dreistes Verhalten der fremden Banknachbarin übergeben möchte, den Lucy allerdings aufgrund Simons mangelnder Zahlungsfähigkeit schließlich selbst bezahlt, der Fall. Wohl verdient ist die Bezeichnung des Romans als ein „leichtes, schwebendes Buch“ (Katharina Picandet), bedient es sich doch auch durch einen karnevalistischen Aspekt und einem Theater im Theater des Komischen.
Innere Abgründe werden durch das Komische angenehm verpackt. Diese kommen zum Vorschein, wenn die Erzählung sich den Gedanken der Figuren widmet, wobei Malcovati oft zum Stilmittel der Analepse greift. Erinnerungen an Passagen des Lebens der Figuren und tragische Wendungen werden stückweise erzählt, sodass der Leser einen tiefgehenden Eindruck von der jeweiligen Figur, ihren Bedürfnissen, Wünschen und Traumata bekommt. Dabei werden aktuelle Themen wie Sicherheitswahn, Überwachung und Manipulation, genetische Krankheiten, Leistungsdruck im familiären Umkreis und die Flüchtlingsproblematik angesprochen. Indem Malcovati oft wichtige Informationen vorenthält, erzeugt sie zusätzlich Spannung – so erfährt der Leser erst am Ende des Romans, was in dem rätselhaften und überaus wichtigen Brief in Lucys Tasche steht, der bereits auf den ersten Seiten erwähnt wird.
Malcovati legt mit Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte ein äußerst gelungenes Debüt vor, das nicht nur kompositorisch und erzählerisch glänzt, sondern durch eine humoristisch-lyrische Wortwahl besticht: „Karamellfarbenes Septemberlicht tropfte in dicken Schwaden durch die Glasdecke“ – diese Beschreibung der Bahnhofshalle lässt die Leser bei ihrer nächsten Bahnfahrt womöglich einmal eine andere Perspektive einnehmen und selbst zu aufmerksameren Beobachtern werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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