Kuckucksuhren in Kadıköy

„Istanbulw:orte“ von José F.A. Oliver

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar gibt es in der deutschsprachigen Literatur noch lange nicht so viele Istanbul-Texte wie Rom-Bücher – aber einige gibt es durchaus, darunter mehrere schöne Lyrikbände und eine Reihe von bewegenden Romanen, zum Beispiel von Feridun Zaimoglu oder von Selim Özdogan. Der in seinem „andalusischen Schwarzwalddorf“ im Kinzigtal lebende José F.A. Oliver, Erfinder und Impressario des Hausacher Literaturfestivals „LeseLenz“, konnte im Herbst 2013 in der kaiserlichen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya wohnen, rund 16 Kilometer vom Zentrum entfernt. Von dort aus erkundete er die 18-Millionen-Metropole, selbstverständlich auf seine unverwechselbare, durch und durch poetische Art: „IST.anbul/ somnambul“. Szenen ziehen vorüber, Sprachbilder entstehen: „die lauerbespannten flügel der möwen/ die sichtbojeninseln zwischen den küsten/ die kontinentkanten am halsfluss der wasser/ am ufer zerfleddern hürriyet-seiten/ der regen danach druckt welt in den staub“.

Kurz- und Langgedichte, manche von ihnen eher lyrische Prosa, Briefe sowie Fotografien des Autors mit kurzen Texten dazu, das alles enthält Olivers neues Buch, dem Joachim Sartorius eine kundige, freundliche Nachbemerkung beigegeben hat. Entscheidend für die Lektüre ist erstens, dass sich die heterogenen Texte im Kopf des Lesers tatsächlich zu einem Ganzen zusammenfügen, und zweitens, dass dieses Ganze ein skeptisches, kritisches, oft auch subversives Bild der gigantischen Stadt und ihrer Bewohner ergibt. „Istanbul ist nicht nur eine Wahrheit. Istanbul ist ein Menschenatlas voller Wirklichkeiten und eines ganz gewiss: Schnittwundrand und Narbe der Geschichte“. Die Stadt wandelt sich rasch, nicht unbedingt zu ihrem Besten. „Manche sagen, die sich häutende Ära hieße Postdemokratie. Nicht nur hier“. Die jüngsten politischen Entwicklungen in der Türkei waren vor drei Jahren erst vage zu erahnen. José F.A. Oliver schreibt bereits: „Der Widerspruch wird vogelfrei. Kritik? Der Staat könnte beleidigt sein […]. Wer zweifelnd hinterfragt, ist hinderlich. Der schläft nicht nur auf Steinen, der wird im besten Falle totbesteuert. Ansonsten weggesperrt“.

Außer politischen Beobachtungen, die dieses Buch auch zu einer „M:ahnung“ werden lassen, enthält es zahlreiche subtile und sensible Miniaturen, die den oft durchaus romantisch gestimmten Dichter als Kultur- und Großstadtkritiker zeigen. Besonders eindrucksvoll sind die Prosastücke, die er seinen übrigens sehr originellen Fotos zugesellt – poetische Bilder, die man nicht so rasch vergisst. Gibt es ein humanes, zivilgesellschaftliches Miteinander? „Eine multikulturelle Metropole ist Istanbul längst nicht mehr. Was mit den Armeniern geschah, ist bekannt. Die Griechen vertrieb man. Neusiedler sind vor allem Russen und Chinesen. Touristen gibt es zuhauf. Am Devotionalienstand vor der Hagia Sophia funktioniert das religiöse Nebeneinander“. Gibt es Oasen der Ruhe? Wohin fliehen vor den Menschenmassen, vor der Hektik? „Einkehr bieten in diesem Atemwinkeln der Stadt die Trödler. Staubgeschäfte wie begehbare Setzkästen. Alltagskurioses, Überbleibsel […]. Entrümpelte Alben, ausgeräumte Menschen“. Und mitten im Trödel findet der Dichter plötzlich – Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald: „Der Kuckuck rief gleich dreifach. Oder war sein Schrei nur Scheinton? Davor, danach, dazwischen? Uhrzeitenvielfalt und Zeit überhaupt!“ Vielleicht, so überlegt der gelegentlich melancholisch gestimmte „Wortschatzgräber“ Oliver, vielleicht ist die Zeit „doch die große Schwester der Sehnsucht“? Intensive Sehnsucht, nach Schönheit und vielleicht sogar nach Trost, kann auch den Leser dieses Büchleins ergreifen. Nur die Poesie schafft das. Gute Poesie.

Titelbild

Jose F.A. Oliver: 21 Gedichte aus Istanbul 4 Briefe & 10 Fotow:orte.
Mit einem Nachwort von Joachim Sartorius.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin – Prenzlauer Berg 2016.
96 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572837

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