Mehrheimisch
Fremdsein mit Francesco Micieli
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePoetikvorlesungen? Ist das nicht eher was für Experten? Nein, bestimmt nicht die von Francesco Micieli! Die fünf Vorträge, die der 1956 im kalabrischen Santa Sofía d’Epiro geborene Autor Anfang 2011 am Mitteleuropa-Zentrum der Technischen Universität Dresden gehalten hat, sind unter dem Titel Der lachende Zahn meiner Großmutter endlich in Buchform erschienen. Im Anhang und im Nachwort von Walter Schmitz erfährt man alles Wissenswerte über den seit Jahren in Bern lebenden Schriftsteller. Micieli hat mindestens fünf Muttersprachen – Italo-Albanisch, Kalabresisch, Italienisch, Berndeutsch und Schriftdeutsch, und eigentlich gehört das Französische auch noch mit dazu. 1965 holten die Eltern den neunjährigen Francesco nach Lützelflüh im Emmental. Bald wurde ihm klar: „Das Fremde sind wir selbst“. Und weil er früh fremd geworden ist auf dieser Welt, ist er Schriftsteller geworden. „Mein ‚Ich‘ ist in den Sprachen und mein Fremdsein in der Kultur. Für dieses Gefühl habe ich das Wort mehrheimisch geprägt, das in bewusstem Gegensatz zu einheimisch steht“. Zur Grundlage seiner Gedichte, Erzählungen, Theaterarbeiten und Essays – und zugleich zur Basis seines vielfältigen öffentlichen Wirkens – wurde die Maxime: Jeder Mensch hat das Recht, „fremd zu sein und darin respektiert zu werden“.
Die Vorlesungen handeln unter anderem von Micielis produktiver Nähe zur Musik, in diesem Kontext fallen auch die Namen Robert Schumann und Franz Schubert, und plötzlich heißt es: „Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus. Das ist meine Romantik“. Wurzeln gibt es demnach in seinem Schreiben keine – sein „Ich“ ist ein ewiger Gast: „Bei jedem leeren Blatt anklopfen, das Schreiben neu entdecken“. Wobei es immer darum geht, Menschen eine Stimme zu geben, „die sich zufällig in einem Land, einem Ort gefunden haben, weil sie daheim keine Arbeit hatten, oder weil andere Gründe sie dazu getrieben haben, ihre Heimat zu verlassen“. Wenn das nicht höchst aktuell ist! Auch wegen dieser ganz auf das Phänomen der Fremdheit, der Geworfenheit des Menschen konzentrierten Überlegungen und Formulierungen sind Micielis Vorlesungen viele Leser zu wünschen. Die stets beliebten „Einblicke in die Werkstatt“, die man von diesem Literaturgenre erwartet, gibt es kostenlos dazu. Sogar die philologisch geschulten Experten dürfen sich freuen: Francesco Micieli spricht ausführlich über die Lektüren, die ihn beeinflusst und angeregt haben, und da tut sich ein weltumspannender geistiger Horizont auf – von Homer über Dante und Stendhal bis Maria Iwanowna Zwetajeva, von Ludwig Wittgenstein über Roland Barthes bis Edmond Jabès, von Robert Walser bis Max Frisch. Adelbert von Chamisso, der auch mit dazugehört, würde sich über dieses Buch des Schweizer Chamisso-Förderpreisträgers mit Sicherheit freuen!
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