Zwischen Quelle und Wüste

Helga Ungers Gedichte laden zum Meditieren ein

Von Jenny SchonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jenny Schon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Träumend mit/ offenen Augen/ durstigen Lippen/ treibe ich/ …/ trinke ich die Weite/ deines Atems/ lege den Finger/ an deinen Puls/ goldene Zeit“ (Goldene Zeit). In dieser goldenen Zeit war auch viel Stille. „Aus Stille/ wächst Raum./ Nicht ich,/ nicht du/ Welle nicht, nicht Stein. Schatten sparen ihn aus:/ Leuchtgrund.“ (Raum)

Dennoch will das lyrische Ich die goldene Zeit nicht alleine verleben, nicht selten begleitet ein Du über die staubbedeckte Erde und am Rain sieht das Du, wie Wicken Samen werfen und Grauvögel stumm in der klaren Luft kreisen. Es lebt zwischen Quelle und Wüste, wo „ein Traum/ fallschirmleicht/ auf die Wiese sinkt,/ die ihr gedämpftes Grün/ fast verbirgt/ unter dem Teppich aus rotleuchtendem/ Mohn?“ (Ankunft)

Es sind biblische Bilder, ein Garten Eden, der in den Gedichten aufscheint und zum Meditieren einlädt. Aber Helga Unger bleibt geerdet. Sie benennt Probleme jenseits der himmlischen Zustände. In ihrem Gedicht Kontrast sieht sie:

Über hunderttausend Lebensmittel
und deren Kombinationen
aus hundertsiebenundfünfzig Ländern
bietet an chromglänzenden Theken
die deutsche Landwirtschaftsmesse…

In einem Waisenhaus irgendwo
in Nigeria, Sambia oder Äthiopien
steht mittags ein Kessel mit
heißem Hirsebrei oder Maniok
auf festgestampfter Erde.

Dutzende Kinder stürzen
herbei, rangeln um
einen Schöpflöffel Brei…

Und nicht nur die sozialen Probleme treiben den modernen Menschen aus dem Paradies. Er ist der Gen-Forschung ausgesetzt (Fortschritt) und elektronischen Systemen, die „kontrollieren/ kompromittieren/ uns/ übergriffig/ unentrinnbar/ gnadenlos/ perfekt“ (Systematisch).

Um nochmal zu zeigen, wie schön die Erde ist und was der Mensch Schönes geschaffen hat, nimmt die Dichterin uns mit auf die Reise: Nach Bethlehem, auf den Marienberg (Vinschgau), nach Südtirol, nach Prag und in die Heimat ihrer Vorfahren nach Mähren. Eine tiefe Religiosität spricht aus den Gedichten von Helga Unger.

Werde ich einmal
Wasser sein
in der Wüste
für einen Dürstenden?

Lass mich,
Lebendiger,
Rebe an dir,
dem Weinstock, sein. (Werden)

Im letzten Gedicht des Bandes ist das „Du/ aus Seiner Hand/ entlassen/ in Freiheit“ (Von Seiner Hand). Diese Freiheit ist bedroht, immer wieder, und sie führt zu Übermut. Der Spaziergang zwischen Quelle und Wüste, der die Lust gebar, frei zu sein, über einen Abgrund zu schwingen, könnte tödlich enden, denn wir sind Tänzer auf dem Kraterrand, wie das Titelgedicht verkündet.

Der Münchner Germanist Hans Unterreitmeier  fragt in seinem Nachwort: „Ist das nun Sprache der modernen Quantenphysik oder Sprache überwunden geglaubter Metaphysik, Sprache mystischer Theologie in der Nachfolge eines Dionysius Areopagita oder „einfach nur“ Sprache als Ausdruck überwältigender persönlicher Erfahrung…“, es lässt sich aber auch „die Sprache der Erfahrung einer theologia mystica, mit der die Autorin seit Jahrzehnten Umgang pflegt, heraushören.“ Wie nah Wortschöpfung mit der Schöpfung verwandt ist, zeigen Helga Ungers Gedichte.

Titelbild

Helga Unger: Tänzer wir auf dem Kraterrand. Gedichte.
Mit einem Nachwort von Hans Unterreitmeier.
Echter Verlag, Würzburg 2016.
96 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783429043506

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