Taumeln zwischen Realität und Fiktion

Marlene Streeruwitz schickt Yseut hinaus in die Welt

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yseut ist eigentlich guten Mutes, als sie in Wien losfährt, alleine in Richtung Italien, Meer. Mithilfe des GPS findet sie problemlos die Villa, die sie ausgesucht hat wegen Byron, seinen Spuren will sie folgen. Und sich auch ein bisschen von Alfred und weiteren Männern, denen sie in ihrem Leben begegnet ist, befreien. Yseut ist nicht mehr jung, nicht mal im besten Alter, nein, sie dürfte über sechzig sein, das mit den Männern ist – im Allgemeinen und leider – vorbei, nicht jedoch bei ihr, sie möchte immer noch, nur ist es schwieriger, komplizierter geworden. Dieses Leben als Frau.

Yseut hat viel erlebt, mit Ed reiste sie – verliebt, wie sie war – nach Kalifornien. Sie hatte ihn beim Kroiss – eine Art Kantine – im Neuen Institutsgebäude kennengelernt. Dass er sie ernst nahm, war ihr mehr als genug, es war neu. Die Heirat mit Eduard, dank der sie nicht länger Köbrunner hieß, sondern Yseut Ysabelle Meinrich, ermöglichte ihr, aus dem Mief der Elternwohnung auszubrechen, dominiert vom Vater, der trank, weg von der Mutter, die es zur Chefsekretärin gebracht hatte und die Familie (mit-)ernährte. In Berkeley wurde bald alles anders, Ed, wie sie ihn nun nannte, war kaum mehr zu Hause, sie las The Feminine Mystique, was nicht ohne Folgen blieb.

Mit Simon, der auf Ed folgte, hatte sie einen Sohn, George Gordon, benannt nach George Gordon Byron, der nie in einem so spießigen Land wie Österreich hätte leben wollen. In der Zeit mit Simon wurde Yseut konfrontiert mit der Geschichte ihres Landes, plötzlich gehörte sie zu den Tätern – so sah es Simons Mutter – und fühlte sich umgehend für alles verantwortlich. Dass dann alles ganz einfach war, als sie dieser Frau gegenüberstand, war eine große Erleichterung.

Doch auch die Ehe mit Simon – wir schreiben das Jahr 1969 – war nicht von Dauer, Yseut zog erst in eine Wohngemeinschaft, später packte sie ihre Koffer und flog mit Goggo, so nannte sich das Kind selbst, nach Wien zurück.

Während Yseut die Männer wechselte, lebten ihre und Eds Mutter noch Jahre zusammen. Anfang der 1980er-Jahre kaufte sich Yseut die Briefe von Byron, dem sie bereits viele Jahre früher begegnet war, als sie noch zu Hause wohnte. Sie arbeitete als Empfangsdame in einer Werbeagentur, abends ging sie manchmal mit Madeline aus. Kennengelernt hatten sich die beiden bereits mit zwölf Jahren in einem Sommerlager. Die Freundschaft hat Jahrzehnte überdauert, und auch in Italien erreichen Yseut die Anrufe der Freundin, deren Pistole sie bei sich trägt.

Yseut begegnete weiteren Männern, war wie so viele die Geliebte eines verheirateten Mannes usw. usf. Und nun also ist sie in Italien, alleine, mit Byron und auf den Spuren von Byron. Doch es soll alles anders kommen. Denn diese Villa hat es in sich. Als Erstes begegnet Yseut einem höchst seltsamen Paar, sie eine weißhaarige Frau und undurchschaubar, er groß und stattlich, genannt Major Alfando, der sich nur über eine Stimmprothese, eine Elektrolarynx, verständigen kann. Die Frau bittet Yseut umgehend, mit dem Major essen zu gehen, im Restaurant sei er gut bekannt, der Tisch für zwei reserviert. Yseut hat keine Wahl. Was nun folgt, ist der Beginn einer Irrfahrt, die sich über mehrere Tage erstreckt: Yseut begegnet dem interessanten, attraktiven Gio Gio, sie sieht sich vor der Villa umstellt von drei dunklen Gestalten, Schüsse fallen, der Major nimmt ihre Pistole an sich, sie fährt zum Rendezvous mit Gio Gio und befindet sich umgehend in einem geheimnisumwitterten Haus mit sich von unsichtbarer Hand lautlos öffnenden und schließenden Türen. Yseut hat längst den Durchblick verloren und schlittert zwischen CIA-, Mafia-, Polizei- und Byron-Spuren umher.

In ihrem neuesten Roman Yseut bewegt sich die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz grandios auf zwei Parketten. Zum einen ist da die Reise ihrer Protagonistin Yseut („Der Vater war der Einzige gewesen, der Yseuts Namen richtig ausgesprochen hatte. Er sagte ‚Üsütt‘.“) von Wien nach Chioggia bei Venedig. Hier gerät sie, die sich eigentlich nur ein paar Tage Erholung von Alfred verschaffen und die Zeit nutzen wollte für die Beschäftigung mit Byron, in ein großes Durcheinander. Bald schon weiß sie nicht mehr, was Realität ist und was Fiktion. Ist sie in ein Kriminalstück geraten, ohne zu erfahren, welche Rolle ihr zugedacht ist? Oder ist sie zufällig Teil einer Kriminalgeschichte geworden, die sich real abspielt? Was da gerade war, löst sich auch am Schluss nicht auf. Weder für die Leserin noch für Yseut. Doch spannend ist die Geschichte von Anfang bis Ende.

Da ist aber auch noch dieser andere Strang im Roman, der durch Yseuts Leben führt. Jeder der insgesamt 37 Folgen, die sich dieser Ebene zuwenden, geht ein kurzer Hinweis voraus, beginnend mit den Worten: “Wie es kam, dass Yseut …“ Hier begegnet die Leserin, der Leser, einer Frau, geboren um 1950, die also zur Nachkriegsgeneration in Österreich gehört. Stark geprägt von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stürzt sie sich in dieses Leben, will raus aus dem elterlichen Umfeld, sieht in Beziehungen mit Männern die Möglichkeit zur Unabhängigkeit, um dann immer wieder festzustellen, dass sie sich das so nicht vorgestellt hat. Yseut ist eine Abenteurerin und eine Kämpferin, diese Kombination gibt ihr das Rüstzeug, letztlich doch ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der hohe Preis, den sie dafür bezahlt, liegt in der Natur der Sache.

Streeruwitz’ Roman zeichnet jedoch noch ein drittes Moment aus, und das ist die Sprache. Sind die “Wie es kam, dass …“-Teile in konventioneller Syntax geschrieben, wählt die Autorin für die Italienkapitel eine Art Kunstsprache. Oft bestehen die Sätze nur aus zwei, drei Wörtern, manchmal auch nur aus einem Wort. Häufig fehlt das Verb.

Lughetto. Lugo. Lova. Conche. Valli. Chioggia. Die Straße von Valli nach Chioggia führte mitten über das Meer. Yseut fuhr mit offenen Fenstern. Das Meer. Das Meer auch so etwas Verheißungsvolles. Immer eine Verheißung und nie ein Wunder. Aber sie freute sich. Das Meer. Der Geruch. Das Licht.

So beginnt der Roman, und es folgen 414 fesselnde Seiten über das Leben von und mit Yseut.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Yseut. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
414 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783100025166

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch